»Eben«, bestätigte Timur. »Du brauchst dich gar nicht zu rechtfertigen, deine Idee zu dieser kleinen Sabotageaktion war wirklich ausgezeichnet. Selbst wenn es nur ihre Katzen erwischt hat.«
Ein Schrei, der aus dem Thronsaal zu uns herüber drang, unterbrach unser Gespräch. Ich ließ den Schokoriegel, den ich noch nicht einmal angebissen hatte, fallen und rannte zur Tür, mit nur einem einzigen Gedanken im Sinn: Das Spiel ist aus.
In die mitternächtlich dunklen Fenster ergoss sich mit einem Mal gleißendes Licht.
Vierter Teil
Die Ritter und die Außerirdischen
1
DIE MASKE FÄLLT
Den Schrei hatte Rita ausgestoßen. Mit den Händen auf das Sims gestützt, stand sie am Fenster und starrte durch die milchige, vereiste Scheibe. Noch keiner der Jungen hatte sich vom Fleck gerührt, nur Tolik hatte sein Schwert gezogen.
Mit einem Satz stürzte ich zum nächstgelegenen Fenster. Durch die zugefrorenen, trüben Scheiben flutete mitten in der Nacht grelles Sonnenlicht in den Thronsaal. Da sich der Riegel nicht öffnen ließ, schlug ich mit dem Ellenbogen gegen das Fensterglas, das, zusammengehalten durch eine dicke Eiskruste, in wenige große Stücke zersprang. Ein zweiter Schlag mit dem Schwertgriff zerbrach den silbrig schimmernden Panzer. Klirrend flogen die Scherben aus dem Rahmen nach draußen, wo sie beinahe lautlos im Schnee landeten.
Im Westen ging die Sonne auf.
Chris’ Finger krallten sich in meine Schulter. Timur stieß pausenlos wüste Flüche aus, und ich hatte den Eindruck, dass ihm bereits etwas klar geworden war, was wir noch nicht einmal ahnten.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit stieg die Sonnenscheibe am westlichen Horizont aus dem Meer. In einem schmalen Streifen rasten niedrige schwarze Regenwolken über den Himmel. Mit ebenso irrwitzigem Tempo folgten ihnen wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel flaumige weiße Wölkchen. Dann legte sich, wie aus
Wie auf Kommando stürmten wir alle aus dem Raum und die Treppe hinauf zum Wehrgang, wo wir, einer neben dem anderen über die Brüstung gebeugt, das Schauspiel verfolgten. An meiner linken Seite spürte ich den warmen Körper von Inga, die ganz nah bei mir stand und sich an meine Schulter drängte.
Die Sonnenscheibe am Himmel schien zu schwanken und veränderte dabei ihre Farbe. Wahrscheinlich war dies der schönste Anblick, der sich uns jemals auf den Inseln geboten hatte. Über der schneebedeckten Ebene und den in Schneewehen versunkenen Burgen, über uns in dicke Kleidung gepackte Jungen und Mädchen erstrahlte eine riesige pulsierende Sonne, wie man sie noch nie gesehen hatte und auch nie für möglich gehalten hätte. Sie blähte sich zu einem unwirklichen Ball auf, der den halben Himmel ausfüllte, und nahm die dunkle glutrote Farbe eines niederbrennenden Kaminfeuers an. Kurz darauf schrumpfte der Ball wieder zusammen, wurde flirrend hell und schleuderte wie ein Flammenwerfer blendende Lichtstrahlen auf die Inseln herab, sodass die Schneedecke augenblicklich zu tauen begann und sich in glitzernden, porösen Firn verwandelte.
Die apokalyptischen Lichtspiele am Himmel waren mindestens ebenso furchteinflößend wie bezaubernd. Dennoch empfand ich keinerlei Angst, sondern musste daran denken, dass ich ein ähnliches Spektakel schon einmal gesehen hatte. In jener Nacht, als wir auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer unterwegs gewesen
Die Sonne nahm nun wieder ihr gewöhnliches Aussehen an. Dafür veränderte sich der Himmeclass="underline" Er wurde so tiefblau, rein und durchsichtig, wie man es nur aus dem Hochgebirge kennt. Ein paar letzte, versprengte Wolken verschwanden spurlos in diesem intensiven Blau, als würden sie von unsichtbarer Hand ausradiert. Danach wurden mit behändem Pinselstrich zwei sich kreuzende Regenbögen in den wolkenlosen Himmel gemalt. In ihrem Schnittpunkt hing die Sonne, wie im Visierkreuz eines überdimensionalen Zielfernrohrs.
Jetzt musste eigentlich etwas völlig Unerwartetes passieren! Das war mir ebenso klar wie die Tatsache, dass der Effekt unseres Sprengstoffanschlags die kühnsten Erwartungen übertroffen hatte.
Der Himmel wurde immer heller, bis er schließlich fast weiß erschien. Die Sonne verblasste und verlor sich im Farbenspiel der Regenbogen. Ja, ich hatte den Eindruck, dass die Luft selbst zu leuchten begann, denn auf den Schnee fielen bläuliche Lichtreflexe, die mir ebenfalls bekannt vorkamen. Aber ich hatte mich getäuscht. Das bläuliche Licht ging von unserer Burg aus, von jener dünnen Schicht aus Eis und gepresstem Schnee, die ihre Mauern überzog und das flirrende Licht reflektierte.
Und dann legte die Burg ihre Maske ab.
Die rosa Farbe wurde abgewaschen.
Die Marmorverkleidung der Mauern verschwand.
Die Burg des Scharlachroten Schildes auf der Insel Nr. 36 zeigte ihr wahres Gesicht. Die Mauern bestanden aus quadratischen Blöcken eines grauen, körnigen Materials, das an Styropor erinnerte. Die Burg sah nicht mehr
Vor diesen schmutzigen, von nassem Schnee bedeckten Mauern standen wir nun, wir Ritter der Vierzig Inseln, wir Jungen und Mädchen von der Erde.
Teils hoffend, teils bangend, betrachtete ich mein Schwert, ob es sich nicht auch verändern würde. Vorläufig jedoch blieb es das, was es war, ein entzückendes Holzspielzeug aus einem Kindermärchen. Aber unter dem Holz konnte ich bereits den Stahl fühlen.
»Wo seid ihr denn nun, ihr Mistkerle?«, zischte Timur. »Zeigt euch gefälligst!«
Die Kälte spürten wir nicht mehr. Wir standen in echtem Schnee unter einem künstlichen Himmel und warteten, was passieren würde.
Die Sonne verschwand. Die Regenbogen verloschen. Der blassblaue Himmel wirkte leer und kalt, wie im Halbdunkel einer Polarnacht. Alles Leben schien aus ihm gewichen, als hätte man ein frisch gemaltes Aquarell mit einem Schlauch abgespritzt.
»Schaut, da fliegen sie!«, platzte Timur plötzlich heraus.
Am Himmel zeigte sich ein silbriger Punkt, der allmählich größer wurde, sich zu einer Scheibe auswuchs. Eine solche Erscheinung hatte vermutlich auch Ilja gesehen, als wir versucht hatten, mithilfe des Spiegels eine Regel des Großen Spiels zu umgehen. War das womöglich eine fliegende Untertasse im Landeanflug?
Mit einem Mal fühlte ich Erleichterung in mir aufsteigen. War nun alles vorbei? Sei’s drum! Eure Gesetze, Inseln und Burgen bin ich leid, dachte ich. Mein einziger Wunsch war, dass nun alles zu Ende ginge, egal was das
Der silbrige Fleck über unseren Köpfen wuchs und wuchs. Es sah so aus, als würde diese Untertasse geradewegs auf uns herabstürzen. Aber nein, sie bewegte sich nicht genau auf uns zu, sondern ein Stück seitlich, man hätte meinen können, dass sie inmitten der Inseln landet.
Der metallische Kreis am Himmel wurde so riesig, dass ich unwillkürlich den Kopf einzog. Plötzlich begriff ich, dass die Silberscheibe zwar ständig im Durchmesser wuchs, dabei jedoch nicht näher kam. Sie vergrößerte sich auch nicht vor dem Hintergrund des Himmels, sondern verdrängte diesen gleichsam vom Zenit her in Richtung des Horizonts. Es handelte sich auch keineswegs um eine Scheibe, sondern um eine Kuppel, die uns überspannte. Die blaue Hülle, die zuvor der Himmel gewesen war, glitt von der Kuppel herab nach unten.
Dieses Gewölbe, das wir bislang für den Himmel gehalten hatten, wies keinerlei Ähnlichkeit mit dem endlosen Raum des Weltalls auf, sondern bestand, soweit wir das aus der Entfernung erkennen konnten, aus quadratischen und rautenförmigen Gitterplatten, die zwischen Stahlträgern aufgespannt waren. Dazwischen waren in unregelmäßigen Abständen orangefarbene Scheinwerfer angebracht.
Die Inseln waren in etwa zwei bis drei Kilometern Höhe von einem Himmel aus Stahl überspannt, der sich an den Randbereichen des Archipels schroff herabwölbte und schließlich ins Meer tauchte.