»Wir teilen uns in drei Gruppen auf«, ordnete Chris an. »Timur, Tolik und Ilja, ihr zieht zusammen los, ebenso Meloman, Maljok und Dima und schließlich Tom und ich. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier. Tim, die nimmst du.« Er reichte Timur Ritas Uhr.
»Was sollen wir denn überhaupt machen?«, erkundigte sich Meloman etwas verzagt.
Chris hob den Arm und deutete auf die lukenartigen Einstiege, die sich etwa fünf Meter über uns befanden und in finstere Tunnels zu führen schienen.
»Wir werden diese einladenden Gänge mal genauer inspizieren und mit den Wesen Bekanntschaft schließen, die darin wohnen.«
Meine Eingeweide krampften sich zusammen. Beim Anblick der schwarzen Löcher in der Gitterwand musste ich an einen gigantischen Ameisenhaufen denken. Es hätte mich nicht gewundert, wenn im nächsten Moment monströse Insekten daraus hervorgekrabbelt wären.
»Vorwärts!«, befahl Chris knapp und begann an der Wand emporzuklettern.
Bevor ich ebenfalls in das stählerne Gitter stieg, trennte ich noch die Ärmel meiner Jacke ab und warf sie in den Schnee. Wenn sich dort oben tatsächlich jemand verbarg, würde es sicherlich einen Kampf geben.
Die Gitterwand war wie eine überdimensionale Leiter und ließ sich mühelos erklimmen. Schon wenige Augenblicke später stand ich mit Meloman und Maljok im Eingang zu einem engen Tunnel. Wie die gesamte Kuppel bestand der Tunnel aus einem Gittergeflecht, dessen Maschen jedoch viel enger gewoben waren als jene an der Wand. Man konnte problemlos darüberlaufen, ohne mit den Füßen hindurchzurutschen. Das orangefarbene Licht drang nur wenige Meter von außen in den Tunnel ein und verlor sich bald im Dunkel des Ganges.
»Ich gehe voraus«, verkündete überraschend Maljok.
Eine Weile verlief der Tunnel horizontal und entfernte sich so immer weiter von der Innenwand der Kuppel. Dann bog er fast rechtwinklig ab und führte nach oben.
Kalte Finsternis umhüllte uns. Durch die Gitterwände drang kein Laut. Ab und zu passierten wir leise brummende Apparate, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren. Mehrmals vernahm ich ein Geräusch, das an
»Zwanzig Minuten sind schon vorbei«, flüsterte Meloman, der vor mir ging.
»Woher weißt du denn das so genau?«, fragte ich verwundert.
»Na ja... ähm, ich singe im Stillen vor mich hin«, sagte er verlegen.
»Was? Du singst vor dich hin?«
»Ja. Das mache ich immer, wenn ich Musik höre. Jetzt bin ich mit dem vierten Lied fertig. Und jedes Lied dauert etwa fünf Minuten.«
»Kannst du auch laut singen?«
»Um Himmels willen, nein!«, erwiderte Meloman entrüstet. »Ich singe völlig falsch. Und wir wollen hier doch kein Aufsehen erregen, oder?«
Ich unterdrückte ein Lachen, obwohl das im Grunde nicht nötig war. Unsere Schritte auf dem Metallgitter konnte man bestimmt aus zweihundert Metern Entfernung hören.
»Was meinst du, wozu dienen diese Gänge?«, fragte ich.
Meloman überlegte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. »Zur Instandsetzung. Hier sind überall Vorrichtungen und Geräte. Vermutlich dienen sie dazu, den Himmel über den Inseln zu erzeugen. Und diese Anlagen müssen hin und wieder gewartet und repariert werden.«
»Ja, kann sein … Mich würde interessieren, wo unser Sprengsatz wohl gelandet ist, dass hier gleich sämtliche Anlagen ausgefallen sind.«
»Das würde ich auch gern wissen.«
Das Stahlgitter ächzte unter unseren Sohlen. In einer lang gezogenen Biegung führte der Gang nun wieder zurück.
Plötzlich fluchte Meloman und blieb abrupt stehen, sodass ich gegen seine Schulter rempelte.
»Da vorn ist Licht«, flüsterte Maljok kaum hörbar.
Auf das Gitter der Tunneldecke fiel ein orangefarbener Lichtschein.
»Sieht so aus, als seien wir wieder an der Innenwand der Kuppel herausgekommen«, hauchte Meloman genauso leise. »Nur an einem Punkt, an dem ein Scheinwerfer steht.«
Das war einleuchtend. Mir fiel auf, dass der orangefarbene Lichtschein mal heller und mal dunkler wurde, so als würde sich zwischen dem Scheinwerfer und uns etwas bewegen, das Schatten warf. Ein riesiges Wesen mit sechs Beinen und Chitinpanzer …
»Lasst mich vorbei«, sagte ich und zog mein Schwert aus dem Gürtel. »Jetzt gehe ich voran.«
Meloman erhob keinen Widerspruch. Ich hatte den Eindruck, dass auch ihm das seltsame Flackern des Scheinwerferlichts aufgefallen war.
Auf Zehenspitzen folgte ich der Biegung des Tunnels, in dem es nun immer heller wurde. Die Gesichter von Meloman und Maljok konnte ich schon wieder klar erkennen, als ich mich kurz nach ihnen umwandte. Vor mir erblickte ich jetzt eine kleine Plattform, an deren Rand der Scheinwerfer stand.
Auf der Plattform befanden sich zwei Gestalten.
Während ich noch einige Schritte weiter ging, fühlte ich, wie der Griff meines Schwerts plötzlich eiskalt wurde.
Sie waren nicht besonders groß, kaum über einen Meter fünfzig. Ihre Statur war breitschultrig, man hätte fast sagen können schwerfällig, wenn sie nicht mit so tänzerischer Leichtigkeit über die Plattform geglitten wären. Ihre Bewegungen glichen den hüpfenden Schritten eines Astronauten auf dem Mond. Ihre Beine waren dünn, der Brustkorb vorgewölbt wie ein Fass, der Rücken war durch einen Buckel oder auch durch eine Art Rucksack ausgebeult. Sie waren vollständig in Umhänge aus einem glänzenden dunkelbraunen Material gehüllt. Ihre Köpfe steckten in breiten, ins Gesicht gezogenen Kapuzen.
»Nur dass du es weißt«, flüsterte Meloman. »Wenn mir jetzt schlecht wird, liegt das nicht daran, dass ich etwas Verdorbenes gegessen habe.«
Die Figuren auf der Plattform setzten ihren hüpfenden Tanz fort. Neben dem kugelförmigen Scheinwerfer, der fast einen Meter Durchmesser hatte, lag eine formlose, unbewegliche Masse. Es schien so, als machten sich die beiden Wesen eben an dieser Masse zu schaffen. Aus den dunklen Umhängen fuhr in regelmäßigen Abständen ein langer, dünner Arm heraus, berührte den gestaltlosen Haufen und zog sich wieder zurück.
»Reparieren die da etwas?«, fragte Meloman.
»So repariert man doch nichts«, entgegnete ich.
Wir hatten zu laut gesprochen.
Die beiden Gestalten erstarrten in ihrer Bewegung und wandten sich dann allmählich in unsere Richtung. Wahrscheinlich konnten sie uns nicht sehen, denn wir befanden uns im Dunkeln, während sie im Scheinwerferlicht
»Gehen wir uns vorstellen«, knurrte ich entschlossen und preschte zur Plattform vor.
3
DER ÜBERLÄUFER
An der Plattform endeten mehrere Gänge, doch wir standen so günstig, dass wir den kleinen Hüpfmonstern alle Fluchtwege abschnitten. Das war ihnen offenbar klar - sie versuchten gar nicht erst zu fliehen, sondern wichen zum Rand der Plattform zurück. Als das Scheinwerferlicht auf ihre Gesichter fiel, sah man unter den Kapuzen ihre Augen leuchten. Wie wir besaßen sie deren zwei.
»Hallo«, sagte Meloman mit gespielter Freundlichkeit. »Ihr seid diejenigen, die uns entführt haben, nicht wahr? Uns ist langweilig geworden auf den Inseln, deshalb haben wir beschlossen, euch einen Besuch abzustatten.«
»Lasst uns sofort nach Hause zurück!«, schrie plötzlich Maljok. »Verstanden!«
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich unseren Jüngsten. Er zitterte, und auf seine Stirn traten Schweißtropfen. Selbst im orangefarbenen Scheinwerferlicht sah seine Haut blass aus. Mit halb drohender, halb verzweifelt klingender Stimme sprach er weiter auf die beiden ein: »Denkt ihr, ich hätte Angst vor euch? Da täuscht ihr euch. Nur weil ich für euch spioniert habe, bin ich noch lange kein Angsthase. Ihr seid die Feiglinge!«
Langsam ging er auf die Fremdplanetarier zu. Eine der beiden Gestalten wackelte mit dem unter der Kapuze verborgenen Kopf und stieß einen dünnen, zischenden Laut aus. Maljok schrak zusammen, blieb jedoch nicht