Es vergingen Zyklus um Zyklus, Periode um Periode. Immer tiefer stieß das Schiff in die Weiten des Kosmos vor. Einem Sprung in den Hyperraum folgte ein Erkundungsflug, dann wieder ein neuer Sprung in den Hyperraum. Immer weiter und weiter, auf der Suche nach anderen Lebensformen, bis die Verbindung zum Lotan abriss. Immer weiter und weiter, obwohl kaum mehr genug Energie für die Rückkehr vorhanden war.
Denn eine Rückkehr ohne das Recht zur Rückkehr bedeutete den Tod.
Beim letzten Sprung in den Hyperraum, als schon keine Hoffnung mehr bestand und die Energievorräte fast aufgebraucht waren, hatte das Expeditionsschiff Glück.
Nahe einem gewöhnlichen gelben Stern existierte auf einem warmen Planeten mit Sauerstoffatmosphäre eine Zivilisation unbekannten Typs.
Diese aus einer Sackgasse der Evolution hervorgegangene Zivilisation, die eine merkwürdige, unlogische Ethik entwickelt hatte und hoch technisiert war, entsprach auf den ersten Blick allen Anforderungen an eine zukünftige Kolonie.
Jetzt musste nur noch die Verbindung zum Lotan hergestellt werden. Das Expeditionsschiff konnte eine rückständige Zivilisation zwar vernichten, aber nicht unterwerfen.
Signal um Signal wurde abgesetzt: vergeblich. Es kam keine Antwort. Doch die Wesen, die im milden, orangefarbenen Licht des Lotan zu Vernunftbegabten geworden waren, konnten warten.
Unter Einsatz der letzten Tropfen Treibstoff fand das Schiff einen geeigneten Ort für den Aufbau einer Forschungsbasis und verband diese durch einen Hypertunnel mit jenem Planeten, der als zukünftige Kolonie ausersehen war. Der Unterhalt des Hypertunnels fraß trotz der geringen Entfernung zum Planeten beinahe die gesamte Energie der Reaktoren. Dafür hatte die Schiffsbesatzung, die sich nun in völliger Sicherheit befand, jederzeit die Möglichkeit, sich auf den Planeten zu begeben. Die Bewohner nannten ihren Planeten Erde, sich selbst nannten sie Menschen. Wollte man sie unterwerfen, war es unabdingbar, ihr Verhalten zu verstehen.
Direkt am Raumschiff errichtete die Besatzung ein Versuchsgelände. Es war eine gewöhnliche Konstruktion aus Stahlgitterplatten und Kunststoffkeramik, die für die Durchführung von Langzeitstudien ausgelegt war. Die Errichtung der Kuppel dauerte mehrere Jahre nach irdischer Zeitrechnung und verschlang Zigtausende Tonnen Stahl, der direkt von der Erde beschafft wurde. Simulationsvorrichtungen
Doch die Vernunftbegabten vom Planeten Lotan meisterten ihre Aufgabe mit Bravour.
Spezialanzüge ermöglichten es ihnen, sich als Menschen getarnt auf der Erde zu bewegen. Und mithilfe von Bioreplikatoren gelang es ihnen, Menschen zu entführen, ohne Aufsehen zu erregen.
Die Erforschung der Erdenbürger begann mit einfachen Tests zu Standardreaktionen wie Selbsterhaltung, Angst, Hass. Wie konnte man Erdlinge dazu bringen, sich zu unterwerfen? Was rief ihren Widerstand hervor?
Schon die ersten Ergebnisse waren überraschend.
Die Menschen verfügten über ein ganzes Arsenal eigenartiger, abnormaler Verhaltensmuster: Liebe, Freundschaft, Mitleid. Die Menschen hatten diese Begriffe erfunden und sich unverständliche Erklärungen dafür zurechtgelegt. Doch die Vernunftbegabten des Planeten Lotan erkannten das Wesentliche, das sich hinter dem Gewirr aus Worten verbarg.
Etwas veranlasste die Menschen dazu, ihre eigenen Reaktionsmuster auf andere zu übertragen: sich um das Leben Bekannter zu sorgen; Verwandten Erfolg zu wünschen; diejenigen zu hassen, die anderen Menschen, ja selbst Fremden Schaden zufügten.
Es wurden diverse Hypothesen aufgestellt, um dieses Verhalten zu erklären. Man konnte es aus der Sicht des Reproduktionsinstinkts betrachten oder als Identifikationsphänomen. Die Quintessenz blieb immer dieselbe: Die Menschen passten nicht in vorgefertigte Kategorien.
Der Plan der Kolonisierung musste also neu überdacht werden.
Die Vernunftbegabten vom Planeten Lotan stellten sich dieser Aufgabe. Sie, die nicht einmal wussten, was Freundschaft bedeutet, unternahmen den Versuch, die Liebe zu verstehen.
Die Jahre verrannen. Beständig wurden Signale abgesetzt, die sich jedoch in den Weiten des Alls verloren und auf dem orangefarbenen Lotan nie ankamen. In der Zwischenzeit wurden die Reaktionsweisen der entführten Erdlinge in den Bordcomputern abgespeichert und analysiert.
Die Besatzung des Expeditionsschiffes kam zu der Erkenntnis, dass ihr Plan zu scheitern drohte. Für die Erdlinge gab es keine einheitlichen Verhaltensmuster. Ein Mensch konnte sein Leben opfern, um ein fremdes Kind zu retten, ein anderer dagegen nahm mit Leichtigkeit den Tod des eigenen Kindes in Kauf, was nicht nur der ungewöhnlichen Ethik seines Planeten, sondern auch dem Reproduktionsgedanken an sich widersprach, der allem Leben zugrunde lag. Es war unmöglich, vorherzusagen, wie der eine oder andere Mensch sich im Fall einer Invasion der Erde verhalten würde. Man konnte nicht mit Sicherheit feststellen, wie man einen Menschen mehr beeindrucken konnte, indem man zum Beispiel seine Liebste entführte oder indem man ihm einen hohen Posten auf dem versklavten Planeten versprach. Die Kolonisierung würde zu einer Lotterie geraten, zu einem Spiel ohne Regeln.
Doch die Vernunftbegabten des Lotan bevorzugten klare Regeln. Sie begannen zu suchen, und sie wurden fündig.
Auf der Erde gab es Menschen, deren Verhalten über das Schicksal des gesamten Planeten entscheiden konnte: Staatsoberhäupter, Parteiführer, Religionswächter, Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller.
Diejenigen eben, denen die Bewohner des merkwürdigen Planeten vertrauten, für die sie Respekt empfanden.
Die Invasionsschiffe vom Lotan würden dreißig Erdenjahre nach Herstellung der Verbindung eintreffen. Die Besatzung des Expeditionsschiffes musste also für jenen Zeitpunkt Informationen über die Psychologie der zukünftigen Führer der Erde beschaffen. Also von denjenigen Menschen, die in dreißig oder vierzig Jahren an der Macht wären. Von Kindern, denen die Hauptrollen in einem Stück zufallen würden, das noch gar nicht geschrieben war.
Es erwies sich als nicht allzu schwierig, geeignete Kandidaten herauszupicken. Die Geschichte wird nicht von Dummköpfen gemacht. Speziell für den Einsatz auf der Erde hatte die Besatzung des Expeditionsschiffes Geräte entwickelt, mit denen die Intensität des intellektuellen Feldes eines Menschen gemessen werden konnte.
Freilich gelangt nicht jedes Genie zu Ruhm. Doch die Außerirdischen begriffen den Intellekt als die Summe geistiger Fähigkeiten, die es ihrem Träger erlauben würden, eine gehobene Stellung in der Gesellschaft einzunehmen. Der auf diese Weise gemessene Intellekt bot eine ausreichende Garantie für die zukünftige Karriere eines Menschen.
Natürlich war es unmöglich, alle Faktoren zu berücksichtigen. Immer wieder kam es vor, dass Heranwachsende mit fantastischen intellektuellen Werten bei Unfällen
Zur Sicherheit trafen die Außerirdischen eine großzügige Vorauswahl. Fast tausend Heranwachsende pro Jahr wurden auf die Inseln geschleust. Man schuf Bedingungen für sie, in denen alle Aspekte ihrer Persönlichkeit zum Tragen kamen: Angst und Wagemut genauso wie Liebe und Hass. Die einen sperrten sich gegen jede Art von Zusammenarbeit, andere wurden bereitwillig zu Spionen. Der eine errichtete auf seiner Insel eine gewalttätige Diktatur, ein anderer führte sie demokratisch, zurückhaltend und im Bestreben, die Interessen aller zu berücksichtigen.
Auf den Inseln wurde ein »Großes Spiel« inszeniert, dessen Ziel für die Beteiligten verführerisch und begehrenswert war. Es wurden Regeln aufgestellt, die zum Teil unerlässlich waren, um das Spiel in Duelle zwischen Verstand und Willen zu kanalisieren und es nicht auf den Kampf gestählter Muskeln zu reduzieren. Das Verbot, bei Sonnenuntergang nach oben zu blicken, hatte eine doppelte Erklärung: Einerseits wurde zum Zeitpunkt der Umstellung der Simulatoren von Tag- auf Nachtbetrieb die nackte Kuppel des Versuchsgeländes für einen kurzen Augenblick sichtbar, andererseits sagt der Versuch, ein Verbot zu unterlaufen, eine Menge über einen Menschen aus. Zu allen Zeiten und auf allen Planeten waren die Unruhestifter immer diejenigen, die keine Angst hatten, Regeln zu brechen.