Daraufhin ergriff unser Kommandeur das Wort. Mit knappen Sätzen berichtete er, dass Janusch und Tolik im Gefecht verwundet worden seien, den Kampf aber tapfer fortgesetzt hätten. Dann erzählte er noch von der brenzligen Szene, als Maljok in einem unaufmerksamen Moment - er war noch durch den tragischen Absturz des Jungen von der Insel Nr. 24 abgelenkt - ein gegnerisches Messer abbekommen hatte.
Als Chris schließlich auf mich zu sprechen kam, stellte er das Geschehene beinahe so dar, als hätte ich die Angreifer quasi im Alleingang auseinandergejagt, ihm, Chris, das Leben gerettet und obendrein noch beispiellosen Edelmut bewiesen, indem ich einen vor Angst erstarrten, hilflosen Gegner verschonte. Dass es sich dabei um ein Mädchen gehandelt hatte, erwähnte er nicht, obwohl er es sehr wohl mitbekommen hatte.
Dem mir in den Kopf steigenden Hitzegefühl nach zu schließen, lief ich gerade puterrot an. In meiner Verlegenheit wusste ich nichts Vernünftiges zu entgegnen. Im Gegenteil, als Chris den von mir verschonten feindlichen Kämpfer erwähnte, wäre mir beinahe herausgerutscht, dass ich mit diesem »Feind« schon seit Jahren befreundet
Mit einem Mal kamen mir Zweifel, ob ich auf der Brücke tatsächlich Inga getroffen hatte. Mir fiel ein, dass sie mich nicht beim Namen genannt hatte. Und den Vorschlag, sich nachts heimlich zu treffen, hätte ich vielleicht von einem Mädchen erwartet, das schon seit Jahren auf den Inseln lebte und davon beeindruckt war, im Kampf verschont zu werden - zu Inga hingegen passte dieses Verhalten überhaupt nicht. Sie hatte in solchen Dingen niemals die Initiative ergriffen.
Meine Überlegungen wurden von Ritas Erscheinen unterbrochen, die sich zu uns gesellte, Chris etwas ins Ohr flüsterte und sich dann an alle wandte:
»Kommt rein, das Abendessen ist fertig!«, rief sie.
Das brauchte sie uns nicht zweimal zu sagen. Wir gingen in den Thronsaal hinunter und machten uns hungrig über die aufgetischten Speisen her: Fleisch, Brot, Kartoffeln, Gurken, Tee mit Konfekt … Tee mit Konfekt? Was war das nun schon wieder für ein Hokuspokus? Es mochte ja sein, dass irgendwo auf der Insel Getreide und Kartoffeln gediehen. Aber in mattes Papier gewickelte, billige, pappsüße Karamellbonbons? Die wachsen schließlich nicht auf den Bäumen! Ungläubig strich ich das Einwickelpapier glatt und stellte fest, dass es keinerlei Beschriftung aufwies. Lediglich eine grüne Insel, umspült von blauen Wellen, war darauf zu sehen. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, beugte ich mich zu Tolik hinüber, der neben mir saß.
»Sag mal, woher kommt eigentlich das ganze Zeug?«, fragte ich flüsternd.
»Von den Hausherren«, antwortete er gelassen.
»Von wem?« Ich verstand nicht.
»Von’n Auferirdifn«, mampfte Tolik, an einem Stück Fleisch kauend.
Wahrscheinlich war in meinem Kopf irgendeine Sicherung durchgebrannt, denn ich hatte aufgehört, mich über irgendetwas zu wundern. Meine Kapazitäten für sprachloses Erstaunen waren für diesen Tag schon aufgebraucht, und so hörte ich emotionslos zu, als mir erzählt wurde, dass die Essensreste jeden Abend in Küchenschränke geräumt würden, in denen sich dann über Nacht an ihrer Stelle frische Lebensmittel, Seife, Wundheilsalbe und Kerzen einfänden. Manchmal sogar neue Schwerter!
Draußen war es inzwischen stockfinster geworden. Nach und nach leerte sich der Thronsaal, bis wir schließlich nur noch zu fünft waren. Meloman hatte seine Kopfhörer aufgesetzt und stand reglos am Fenster. Ich hätte mir gern seinen Disc-Man ausgeliehen, konnte mich aber nicht aufraffen, ihn darum zu bitten. Meloman war der verschlossenste und schweigsamste von den Jungen hier auf der Insel.
Überall in der Burg waren Kerzenlichter entfacht worden, die eine gespenstische Atmosphäre verbreiteten. Monströse Schatten flackerten auf den rosa Marmorwänden, die Decke über uns versank im Halbdunkel, und in den Fensterscheiben spiegelten sich züngelnd die orangegelben Flammen der Kerzen. Draußen heulte der Wind und rüttelte an den Fensterläden, die gequält ächzten und polternd auf- und zuflogen. Man hätte sich nicht wundern müssen, wenn im nächsten Moment ein Vampir zur Tür hereingekommen wäre.
Timur zog ein zerfleddertes Büchlein hervor, lehnte
Dann trat Chris von hinten an mich heran und legte mir den Arm auf die Schulter.
»Gefallen sie dir?«, fragte er.
»Die Schachfiguren? Ja, sehr«, erwiderte ich.
»Die habe ich mitgebracht«, sagte Chris sichtlich stolz. »Alle Sachen hier hatte irgendjemand bei sich, als er auf die Insel kam. Sollen wir eine Partie spielen?«
»Ich bin zu müde«, erwiderte ich beinahe ehrlich. Nur beinahe, da ich zwar tatsächlich müde war, aber durchaus nicht vorhatte zu schlafen.
»Na gut«, gab sich Chris überraschend schnell zufrieden, »ich begleite dich zu deiner Kammer.«
Wir verließen den Thronsaal und schritten durch den Gang, in den durch zahlreiche unverglaste Fensterluken der kalte Wind hereinblies.
»Was heißt ›Es ist sehr kalt‹ auf Englisch?«, fragte ich.
»It’s very cold«, antwortete Chris zerstreut.
Dann blieb er auf einmal stehen, fasste mich mit festem Griff am Handgelenk und musterte mich von oben bis unten mit seinen harten grauen Augen.
»Dimka«, begann er mit eindringlicher Stimme, »du bist ein kluger Junge. Aber sag das nie wieder, was du heute auf der Brücke zu mir gesagt hast. Nie wieder, verstanden!«
»Was habe ich denn gesagt?«, stammelte ich bestürzt.
»Du hast gesagt, dass es unmöglich ist, alle vierzig Inseln zu erobern.«
»Aber …«
»Du hast ja recht!«, unterbrach er mich. »Es ist unmöglich, alle vierzig Inseln zu erobern. Das ist allen klar, wenn es auch nicht alle so schnell begreifen wie du. Aber niemand spricht es laut aus. Man verliert sonst jeden Lebensmut. Verstehst du?«
Ich verstand durchaus. Und darüber hinaus stellte ich fest, dass es für Kummer und Angst offenbar keine Sicherung gibt, anders als für die Fähigkeit, über etwas zu staunen. Egal wie traurig man ist, es geht immer noch schlimmer. Nur ein einziger Lichtblick hinderte mich in diesem Augenblick daran, wie ein kleines Kind loszuheulen. Und dieser Lichtblick hieß Inga.
7
DIE DOPPELGÄNGER
Ein Glück, dass Maljok schon schlief, als ich in die Kammer schlüpfte. Chris hatte entschieden, dass ich mit dem kleinen Jungen zusammenwohnen würde, während Timur, der bisher die Kammer mit ihm geteilt hatte, den Platz von Chris einnahm. Der wiederum war in eine der leer stehenden Kammern im Wachturm umgezogen. Der Kommandeur der Burg des Scharlachroten Schildes auf der Insel Nr. 36 schien ein selbstloser und sensibler Anführer zu sein.
Die Nacht war kühl, eine treu sorgende Seele hatte eine dicke Zudecke auf meinem Bett deponiert. Jedes Geräusch vermeidend, kletterte ich auf die Matratze und legte mich auf den Rücken. Die Decke schob ich vorsichtshalber zur Seite, um nur ja nicht einzuschlafen. Es ging mir durch den Kopf, was mich morgen in aller Frühe erwarten würde: Wache schieben auf irgendeiner Brücke, mit dem Schwert kämpfen und vielleicht sogar töten. Andernfalls würde ich selbst nicht überleben. Tolik hatte mir am Abend noch erzählt, dass einige Jungen, die auf die Insel gekommen waren, es nicht über sich brachten, ernsthaft zu kämpfen. Stattdessen hatten sie versucht, die Inseln zu befrieden - und waren dabei ums Leben gekommen.
»Chris ist schlau …«, murmelte Maljok, um sogleich noch etwas Unverständliches hinzuzufügen. Er redete offensichtlich im Schlaf. Kurz darauf wälzte er sich auf
»Nicht nötig«, begann Maljok von Neuem, »er kann trotzdem nichts ausrichten …«