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Boabissia saß bleich auf dem Kutschbock. Ich erinnerte mich daran, daß sie keine Alar war. Um ihren Hals hing noch immer der Knebel. »Es ist nicht nötig, genau hinzusehen«, sagte ich.

»Was ist geschehen?« fragte Mincon.

»Der Krieg«, antwortete Hurtha.

»Wer hat das getan? Soldaten aus Ar?«

»Wir wissen es nicht.«

Feiqa sah aus, als wäre ihr schlecht. Sogar Tula, ein Bauernmädchen, sah blaß aus.

»Sklavinnen, legt euch im Wagen auf den Bauch.« So wären ihre Köpfe unten, und sie könnten nichts sehen.

Boabissia sah mich an.

»Wir können nichts tun«, sagte ich.

Sie nickte.

»Alles in Ordnung?«

»Hätten wir heute morgen das Lager mit den anderen verlassen«, flüsterte sie, »wären wir dabei gewesen.«

»Ja. Aber wir hätten es überstehen können. Zweifellos gibt es Überlebende. Es gibt immer Überlebende. Vermutlich haben die vorausmarschierenden Abteilungen bereits hiervon erfahren.«

»Wir wären dabei gewesen«, wiederholte sie.

»Das stimmt.«

Ich trat zu dem Mann, den wir am Straßenrand gefunden hatten, und half ihm auf die Füße.

»Ich möchte, daß dieser Mann auf dem Kutschbock sitzt, Boabissia. Geh bitte nach hinten.«

Boabissia begab sich wortlos nach hinten. Sie setzte sich mit dem Rücken an das Seitenbrett.

Ich half dem Mann auf den Kutschbock. Er war unsicher auf den Beinen. Vermutlich hatte er einen Schock erlitten. Ich legte ihm eine Wolldecke um.

»Können wir?« fragte Mincon.

Ich nickte.

Wir bahnten uns einen Weg um die ausgebrannten Fuhrwerke herum. Gelegentlich hielten die freien Frauen in ihrem Tun inne und beobachteten uns. Zweimal schlug Mincon voller Wut nach ihnen, und sie wichen zurück. Aber bereits einen Augenblick später kehrten sie hinter uns an ihre Arbeit zurück.

9

»Reiter«, sagte Mincon.

Hurtha und ich gingen zu Fuß neben dem Fuhrwerk her; wir sahen noch nichts.

»Das ist sicher noch mehr cosische Kavallerie«, sagte Hurtha.

Das entsprach vermutlich der Wahrheit. Banditen würden sich wohl kaum so offen bewegen. Dennoch lockerte ich die Schwertklinge in der Scheide. Früher am Abend waren mehrere Abteilungen Kavallerie an uns vorbeigaloppiert.

Boabissia saß mittlerweile wieder neben Mincon auf dem Kutschbock; sie sah ängstlich auf Hurtha hinunter. Doch er nahm sie gar nicht wahr. Er sah nach vorn, die Axt in der Hand.

»Schlüpft unter die Decke!« befahl ich Feiqa und Tula.

Die Wagen in unserer Reihe wurden langsamer und hielten an. Ein Soldat auf einem Tharlarion stemmte sich in den Steigbügel hoch.

»Wer sind sie?« fragte ich Mincon.

»Ich glaube, cosische Kavallerie.«

Vor uns ertönten Trompetensignale. Genau wie Paßwörter werden diese Signale häufig ausgewechselt.

»Ja«, sagte Mincon, »so wie es aussieht, tragen sie die richtigen Abzeichen.«

Es war der zweite Tag nach dem Massaker. Am Vorabend waren wir in einem befestigten Lager auf den uns zugewiesenen Stellplatz gefahren. Soweit mir bekannt war, war es das erste auf diesem Marsch, das die Cosianer erbaut hatten. Solche Lager sind bei den goreanischen Streitkräften verbreitet. Der Lagerplatz wird von einem Graben umgeben. Der Aushub wird aufgetürmt und bildet zusammen mit dem Graben eine primitive Mauer. Ist genügend Rohmaterial vorhanden, errichtet man auf dem Mauerkamm eine Palisade. Bei kurzzeitigen Lagern umgibt man es mit Gebüschen. Die Zelte der Befehlshaber errichtet man gewöhnlich auf höherem Grund in der Lagermitte. Das erleichtert Verteidigung, Kommunikation und Aufklärung.

Ich stand auf einer Speiche des Vorderrades. »Ja, schon möglich.« Hurtha stand in der Nähe des Wagens. Er konnte sofort dahinter verschwinden oder sich an die Seite drücken. Die näher kommenden Reiter kamen in Sicht. Die Reitechsen ließen den Boden erbeben. Soweit ich es erkennen konnte, trug die Abteilung die blaue Farbe von Cos. Die Wimpel an den Lanzen der ersten Reiter zeigten das Banner von Cos. Gleich wären sie an uns vorbei, von dem Wagenzug auseinandergerissen wie ein Strom, der an einem Felsen vorbeifließt. Ich warf einen Blick in den Wagen. Feiqa und Tula lagen auf der Ladefläche; die rauhen Säcke würden auf ihrer Haut Abdrücke hinterlassen, ihnen aber gleichzeitig etwas Schutz vor den groben Holzplanken des Wagens verschaffen. Sie lagen reglos zwischen Getreidesäcken, eine dunkle Decke über sich gebreitet, und wagten es kaum, Luft zu holen. Es wäre keine gute Idee gewesen, die Sklavinnen starken Männern zu zeigen.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick – erfüllt von Männern und klirrenden Waffen –, dann waren die Cosianer vorbei. Ein berittener cosischer Soldat am Straßenrand salutierte mit der Lanze. Bereits wenige Ahn nach dem Massaker wurde der Rest der Kolonne von Wächtern begleitet. Die Fuhrwerke setzten sich wieder in Bewegung.

»Heute abend sind wir in Sicherheit«, sagte Mincon. »In Torcodino.«

Torcodino auf den Ebenen von Serpeto ist ein Verkehrsknotenpunkt. Die Stadt liegt am Schnittpunkt mehrerer Straßen: Die Straße des Genesian verbindet Brundisium und andere Küstenstädte mit dem Süden, die Nördliche Salzstraße ist die Ost-West-Verbindung, die Nördliche Seidenstraße die Nord-Süd-Verbindung. Die Straße der Pilger führt zum Sardargebirge, und die Oststraße, die auch Schatzstraße genannt wird, verbindet die Städte des Westens mit Ar. Torcodino mit seiner strategischen Lage war angeblich mit Ar verbündet. Den letzten Gerüchten zufolge hatte sich die Stadt jedoch seit neuestem anders orientiert.

Ein Sprichwort lautet: Es gibt keine Stadt, die sich nicht hinter Mauern zurückziehen könnte, die ein goldbeladenes Tharlarion errichtet hat. Vielleicht hatte der Rat von Torcodino auch kein Bedürfnis verspürt, mit einer so großen Streitmacht wie die der Invasoren zu diskutieren. Vor die Wahl Gold oder Tod gestellt, denken nur wenige Männer lange nach. Trotzdem war ich überrascht, daß Ar seinem Verbündeten nicht schnell zur Hilfe geeilt war. Soweit ich wußte, hatte man Torcodino der Gnade der cosischen Armee überlassen. Die Stadt diente jetzt als cosischer Stützpunkt und Sammelpunkt. Zum Beispiel sollte Mincon, nachdem er seine Ladung in Torcodino abgeliefert hatte, über die Straße des Genesian nach Brundisium zurückkehren, wo bereits die nächste Ladung auf ihn wartete. Cos’ Aufmarsch wirkte sehr gemächlich, vor allem dann, wenn man bedachte, daß sich das Jahr seinem Ende zuneigte. Wie bereits erwähnt, werden Söldner im Herbst oftmals ausgemustert, um im Frühling wieder aufgenommen zu werden. Andererseits wurde es in diesen Breiten zwar recht kalt, aber der Winter war nicht so streng, daß das blutige Spiel des Krieges unterbrochen werden mußte.

»Das da sind die Aquädukte von Torcodino!« erklärte Mincon.

Vor mehr als einem Jahrhundert hatte man feststellen müssen, daß Torcodinos natürliche Wasserquellen, die für eine geringe Bevölkerung ausreichten, die sich ausbreitende Stadt nicht länger versorgen konnten. Nun brachten zwei Aquädukte aus einer Entfernung von mehr als hundert Pasang Frischwasser in die Stadt: das erste Aquädukt kam vom Issus, einem in nordwestlicher Richtung fließenden Nebenfluß des Vosk, das zweite von den Quellen auf den Hügeln von Eteocles, südwestlich von Corcyrus. Die Pumpstationen wurden von Garnisonen geschützt. Die Aquädukte selbst wurden ständig patrouilliert, während Ingenieure und Arbeiter sie ununterbrochen inspizierten und für ihre Instandhaltung sorgten. Es waren großartige Konstruktionen.

Ich zog den Sklavinnen die Decke herunter. Falls es vor den Toren Torcodinos Kontrollen gäbe, wäre es unmöglich, sie zu verstecken. Außerdem gefiel mir ihr Anblick.

»Wann haben wir die Stadt erreicht?« fragte Boabissia.

»Die ersten Wagen sind zweifellos schon an den Stadttoren«, erwiderte Mincon.

Etwa eine halbe Ahn später standen wir vor Torcodinos Sonnentor. Viele Städte haben ein ›Sonnentor‹. Der Name rührt daher, daß es gewöhnlich bei Sonnenaufgang geöffnet und erst bei Anbruch der Dämmerung wieder geschlossen wird. Sobald eine goreanische Stadt ihre Tore schließt, ist es sehr schwer, sie wieder zu verlassen. Sie werden nur selten für Privatpersonen geöffnet. Es kommt vor, daß sich Straßenräuber, Banditen und manchmal sogar Sklavenhändler in Tornähe herumtreiben und versuchen, Spätankömmlinge im Schatten der Mauern zu überfallen. Viele hübsche Frauen sind auf diese Weise der Schlinge eines Sklavenhändlers zum Opfer gefallen. Normalerweise gibt es ein unter Bewachung stehendes ›Nachttor‹, durch das in der Stadt bekannte Bürger oder Leute, die sich ausweisen können, zu später Stunde eingelassen werden.