»Mag sein.«
»Falls man Torcodino stürmen und in Brand stecken, die Vorräte erbeuten oder vernichten würde, würde das den Aufmarsch von Cos behindern, wenn nicht sogar ganz zum Stillstand bringen. Solch eine Tat würde die Invasion erschweren und letztlich scheitern lassen. Ar würde die Zeit gewinnen, die es braucht, um sich ausreichend zu wappnen, damit es den Feind stellen kann.«
»Die Cosianer sind ganz in der Nähe«, erklärte Mincon. »Man würde ein großes Heer brauchen, um eine Bresche durch sie hindurch zu schlagen.«
»Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten.«
»Aber nicht mit Tarnsmännern.«
»Möglich.«
»Zu dieser Tageszeit ist die Sicht sehr schlecht, aber der Himmel über der Stadt ist mit Tausenden von Tarndrähten verspannt«, sagte Mincon. »Selbst am Tag erkennt man sie nur mühsam. Aber sie sind da, das kann ich dir versichern.«
Das bezweifelte ich nicht. An einigen der Gebäuden waren Aufhängungen befestigt.
»Die Tore Torcodinos sind stark«, fuhr er fort, »die Mauern hoch und fest.«
»Zweifellos.«
»Torcodino ist uneinnehmbar. Man kann es nicht erobern.«
»Ich wüßte, wie ich es anstellen müßte«, sagte ich.
Boabissia war still. Auch Feiqa und Tula sagten kein Wort. Ich schaute mich um. Die Straßen waren nicht sonderlich bevölkert. Ich sah einen Händler mit seinem Wagen; ein Sklavenmädchen in einer kurzen Tunika ging vorbei. Sie sah mich an und senkte sofort den Blick. Unter der winzigen kurzen Tunika befände sich nichts weiter als bloße Haut. Darauf achten goreanische Sklavenbesitzer. Bei Feiqa und Tula war das nicht anders. So vergessen die Mädchen nicht, daß sie Sklavinnen sind. Ich sah Boabissia an. Sie hielt noch immer den Kopf gesenkt. Der lange Rock reichte ihr bis zu den Fußgelenken.
»Wir haben den Wagenhof in einer Viertelahn erreicht«, sagte Mincon.
»Gut«, erwiderte ich.
11
»Vielleicht kannst du dich noch an mich erinnern«, sagte der Mann.
»Nein. Tut mir leid«, antwortete ich schnell.
»Es ist ein paar Abende her«, sagte er. »Auf der Straße des Genesian, in einem der Lager.«
»Tatsächlich?«
»Ich bin ein Kaufmann, aus Tabor.«
»Ach ja, richtig.« Es war tatsächlich der Kaufmann aus Tabor, der dicke Bursche, der so stur entschlossen gewesen war, das Geschenk zurückzubekommen, das er Hurtha aus freien Stücken gemacht hatte – worauf ich ihn ausdrücklich hingewiesen hatte. »Wie geht es dir?« fragte ich und fürchtete zugleich, daß mir die Antwort nicht gefallen würde.
»Es geht mir gut«, antwortete er, doch in seiner Stimme schwebte ein Hauch Verbitterung.
»Das höre ich gern.« Sein ganzes Benehmen machte deutlich, daß er beabsichtigte, sich erneut zu beschweren. Ich hatte auch schon einen Verdacht, worum es sich dabei handeln mochte. In solchen Situationen ist es angebracht, freundlich zu sein und häufig zu lächeln.
»Ich wüßte nicht, was da zu lächeln gibt«, sagte er.
»Es tut mir leid.«
Er sah sich um. »Der große Tölpel mit dem Schnurrbart, den Zöpfen und der Axt ist nicht da, oder?«
»Wen meinst du?«
»Ich spreche von dem Mann, der sich Hurtha nennt«, erläuterte der Kaufmann.
»Oh.«
»Zumindest ist das der Name, den du mir bei unserer letzten Begegnung genannt hast.«
»Ja«, erwiderte ich. »Richtig.« Vielleicht war die Enthüllung von Hurthas Namen ein Fehler gewesen. Andererseits konnte es nicht besonders schwierig sein, ihn aufzuspüren, selbst wenn sein Name unbekannt war. Es gab im unmittelbaren Umkreis nicht viele, die ihm ähnelten. Übrigens fand ich die Bezeichnung Tölpel für ihn nicht besonders schmeichelhaft. Selbst wenn es in gewisser Weise zutreffen mochte – von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen –, war er doch ein Dichter und verdiente deshalb einen gewissen Respekt, ganz besonders dann, wenn man noch nichts von ihm gelesen hatte. Außerdem rühmte er sich seines Feingefühls. »Nein«, sagte ich. »Er ist nicht da.«
»Hier«, sagte der Kaufmann energisch und hielt mir ein Stück Papier vor die Nase. Darauf stand etwas geschrieben.
»Wer hat das geschrieben?« fragte ich.
»Ich.«
»Oh.« Wie die meisten Alar war Hurtha des Lesens und Schreibens unkundig. Boabissia übrigens auch. Aber das hat bis jetzt kaum einen Dichter von der Kunst abgehalten. Tatsächlich waren einige der größten Dichter aller Zeiten Analphabeten. Bei Völkern wie den Tuchuk und Torvaldsländern beispielsweise wird die Dichtkunst nur selten niedergeschrieben. Man lernt Gedichte und Heldenlieder auswendig und singt sie an den Feuern und in den Hallen; auf diese Weise wird die literarische Tradition fortgesetzt. Und Dichter wie Hurtha ließen sich erst recht nicht vom Analphabetentum an ihrer Kunst hindern.
»Er ist hinter einem Wagen hervorgesprungen, mit erhobener Axt!« sagte der Kaufmann. »›Ich bin ein Dichter‹, verkündete er mit seiner Axt in der Faust. ›Willst du ein Gedicht kaufen?‹ fragte er. Ich habe natürlich sofort eingewilligt. Dann hat er mir dieses Gedicht diktiert, das ich in Todesangst auf dieses Stück Pergament gekritzelt habe.«
»Mit anderen Worten, du hast es aus freiem Willen getan«, bemerkte ich, da ich es für wichtig hielt, diese Tatsache zu unterstreichen.
»Ich will meinen Silbertarsk zurück!« verlangte er.
»Es ist ein sehr schönes Gedicht.«
»Du hast es nicht einmal gelesen«, stellte er fest.
»Ich habe schon andere gelesen«, erwiderte ich. »Ich bin überzeugt, es ist genauso gut.« Tatsächlich hatte ich an diesem Abend bereits drei Gedichte gelesen. Der Kaufmann aus Tabor war der vierte Mann, der mich aufsuchte. Und er war auch der vierte Mann, der seinen Silbertarsk zurückverlangte.
»Ich finde es höchstens absonderlich«, sagte der Kaufmann. »Es ist völliger Schwachsinn, aber ich bin nur ein einfacher Geschäftsmann und kein Schriftgelehrter. Zweifellos fallen diese Dinge eher in dessen Gebiet.«
»Das ist wahr«, sagte ich.
»Könntest du mir diese Zeile erklären?« bat er und wies mit dem Finger auf die bewußten Worte.
»Nein.«
»Und wie wäre es mit dieser hier?«
»Auch nicht.«
»Was ist hiermit? ›Ihre Augen waren wie grüne Monde.‹«
Ich nickte. »Das ist doch einfach zu verstehen. Die Monde stehen zweifellos für Romantik, und Grün symbolisiert neues Leben und Vitalität.«
»Das Gedicht ist einem verwundeten Tharlarion gewidmet.«
»Oh.«
»Ich will meinen Silbertarsk zurück«, sagte er.
»Natürlich.« Ich leerte den Inhalt meines Geldbeutels auf die Handfläche. Es war nicht schwer. »Vermutlich ist es der Tarsk hier.«
»Vermutlich«, erwiderte er. »Da ist nur ein Tarsk, und er trägt den Stempel der Münze von Tabor.«
»Genau«, sagte ich und gab ihn zurück. Eines mußte man über Hurtha wissen. Er schätzte seine Dichtkunst sehr hoch ein. Er gab seine Werke nicht kostenlos weiter. Sie waren nicht billig. Doch ein Silbertarsk schien ein gewaltiger Preis für ein Gedicht zu sein, selbst für ein großartiges Werk von Hurtha. Vor allem dann, wenn man es selbst niederschreiben mußte. Viele schöne Sklavinnen bringen auf dem Auktionsblock weniger als einen Silbertarsk ein.
»Danke«, sagte der Kaufmann.
»Was denn noch?« fragte ich, weil er nicht ging.
»Mir steht doch sicherlich eine Entschädigung für meine Mühen zu.«
Die anderen Männer hatten diese Einstellung nicht vertreten. Andererseits waren es auch keine Kaufleute gewesen.
»Hier«, sagte ich und gab ihm einen Kupfertarsk. Jetzt hatte ich nur noch zwei Münzen.
»Danke«, sagte er, nachdem er das Geldstück einer genauen Untersuchung unterzogen hatte.
»Keine Ursache.« Er verschwand.
Hurtha trat näher; er wirkte völlig verzweifelt. »Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«
»Wie das?« fragte ich.
»Ich fürchte, in meinem gutherzigen Bemühen, unsere Lage zu verbessern, habe ich mich entehrt, wenn nicht sogar ruiniert.«
Ich sah ihn erwartungsvoll an. Das würde sicherlich eine interessante Geschichte werden.