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»Hast du Tarnsmänner am Himmel gesehen?« fragte ich.

»Nein.« Cos würden natürlich Tarnsmänner zur Verfügung stehen. Aber nicht einmal die patrouillierten die Aufmarschlinien.

»Warum ist die Kolonne unbewacht? Das ist doch ungewöhnlich.«

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Darüber habe ich mich auch schon gewundert. Vielleicht hält man es für unnötig.«

»Hat es denn keine Angriffe gegeben?« Man konnte doch wohl davon ausgehen, daß Ar Tarnsmänner zum Einsatz brachte, um die feindlichen Nachrichten- und Nachschublinien zu zerstören. Vielleicht hatten es die Tarnsmänner nicht bis zu den Wagenzügen geschafft. Hätte in Ar die Befehlsgewalt in den Händen Marlenus gelegen, wäre bereits ein Gegenschlag erfolgt. Davon war ich fest überzeugt. Doch hielt sich Marlenus nicht in Ar auf, wenn man den Berichten Glauben schenkte. Angeblich leitete er eine Strafexpedition in den Voltai, gegen die Räuberhorden von Treve. Ich verstand nur nicht, warum man ihn, falls möglich, nicht zurückgeholt hatte.

»Was tätest du, wenn Tarnsmänner aus Ar kämen?«

Er kicherte. »Mit einem Sprung unter dem Wagen verschwinden. Und wenn sie landen – laufen, so schnell ich kann.«

»Du würdest deine Ladung nicht verteidigen?«

»Das ist nicht meine Aufgabe«, erwiderte er. »Man bezahlt mich fürs Fahren. Und genau das tue ich auch.«

»Und die anderen Kutscher?«

»Die täten vermutlich dasselbe. Wir sind Kutscher, keine Soldaten.«

»Der ganze Nachschubzug wäre einem Angriff also schutzlos ausgesetzt. Und doch hat Ar nichts unternommen. Das ist bemerkenswert.«

»Wenn du meinst.«

»Warum eigentlich nicht?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht können sie nicht bis hierher vordringen.«

»Nicht einmal mit Kommandotrupps, als Bauern verkleidet?«

»Keine Ahnung. Was weiß ich?«

Das Tageslicht schwand. An den Straßenrändern sah man gelegentlich die winzigen Lager der freien Frauen. In manchen flackerten kleine Feuer. Es gab gelegentlich behelfsmäßige Unterkünfte, kaum mehr als über Stöcke gelegte Planen oder Decken. Als wir vorbeifuhren, kam es vor, daß eine der Frauen vom Feuer aufstand und uns hinterhersah. Mir fiel die freie Frau wieder ein, die ich in der vergangenen Nacht in ihrer Hütte kennengelernt hatte. Wir hatten sie schlafend zurückgelassen. Ich hatte noch etwas von meinem Proviant neben sie gelegt, dem Kind hatte ich eine goldene Tarnscheibe aus Port Kar in die Ecke seiner Decke eingerollt. Damit könnte sie vieles kaufen. Vielleicht gelänge es ihr mit dem Geld sogar, es bis zu einem anderen Dorf zu schaffen, weit abseits von dem Heerzug, wo sie es als Brautgeld verwenden, es also im Prinzip dazu benutzen könnte, sich einen Gefährten zu kaufen, einen guten Mann, der sich um sie und das Kind kümmerte. Im Gegensatz zu den Frauen der Stadt sind Bäuerinnen in solchen Dingen eher praktisch veranlagt. Sie hatte mir ihre Gastfreundschaft erwiesen.

»Wir haben das Lager bald erreicht«, sagte Mincon.

Plötzlich keuchte Feiqa entsetzt auf und wich zurück. Am rechten Straßenrand hatte man einen Mann gepfählt. Kopf und Gliedmaßen baumelten herab. Der Pfahl war etwa drei Meter hoch, mit einem Durchmesser von zehn Zentimetern. Man hatte ihn mit Felsbrocken und Steinen fest im Boden verkeilt. Das obere Ende war mit einem Breitbeil spitz zugehauen worden. Dann hatte man das Opfer über diese Spitze gehalten und es mit großer Kraft durchbohrt, so daß das Holz etwa einen knappen Meter aus dem Bauch aufragte.

»Vielleicht ein Spion«, sagte ich.

»Eher ein Deserteur oder ein Nachzügler«, meinte Mincon.

»Schon möglich.« Das war heute das erste echte Zeichen, daß vor uns tatsächlich Soldaten marschierten.

»Ist das Lager noch weit entfernt?«

»Nein«, sagte er.

4

Plötzlich ertönte der zögernde, erstickte Schrei eines Neugeborenen.

Genserix blickte von dem Feuer auf, um das wir saßen; er war breitschultrig und kräftig, hatte dichte Augenbrauen und einen herabhängenden langen Schnurrbart; das lange Blondhaar war zu Zöpfen geflochten. Das Gebrüll kam aus einem der Wagen.

Es klang bereits wesentlich lebhafter.

»Das Kind wird leben«, sagte einer der Krieger, die in der Nähe saßen.

Genserix zuckte mit den Schultern. Das müßte sich erst noch erweisen. Feiqa kniete hinter mir. Wir befanden uns in der Wagenburg von Genserix, einem Häuptling der Alar, viehzüchtenden Nomaden, die wie die Einwohner von Torvaldsland für ihr Geschick mit der Axt bekannt sind. Die Wagenburg der Alar bestand aus einem geschlossenen Kreis, in dessen Innern sich die Zugtiere sowie die Frauen und Kinder aufhielten. Manchmal kommen auch die Verr, Tarsk und Bosk hinzu; das kommt auf die Größe der Herden an, ob der Zug durch gefährliches Gebiet führt. Abwässer und Abfall stellen kein Problem dar – obwohl man das eigentlich erwarten könnte –, da die Lager ständig verlegt werden.

»Es ist ein Sohn«, sagte eine der Frauen, die sich aus dem Wagen dem Feuer näherten.

»Noch nicht«, erwiderte Genserix.

Die Wagenvölker sind ständig unterwegs. Die Bosk brauchen neue Weidegründe. Tarsk und Verr brauchen frische Schößlinge und Wurzeln. Die Bedürfnisse der Tiere, die für die Alar die Lebensgrundlage darstellen, dienen den Nomaden als ständige Rechtfertigung für ihre Reisen, die manchmal zu richtigen Völkerwanderungen werden. Man muß wohl nicht näher darauf hinweisen, daß diese Wanderungen, vor allem wenn sie dichter besiedelte Gegenden berühren, die Wagenvölker in Konflikt mit den Bauern bringen, woraus sich wiederum Schwierigkeiten mit den Städtern ergeben, da diese auf die Nahrungsmittelproduktion der Bauern angewiesen sind. Vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen stellen die Nomadenwanderungen eine Invasion dar, zumindest aber Gebietsverletzungen, da sich die Nomaden ohne Erlaubnis in den Herrschaftsbereich der Städte begeben.

Manchmal zahlen sie für das Privileg, durch ein Land ziehen und die Weiden benutzen zu dürfen, aber das ist eher die Ausnahme. Die Alar sind ein wildes Volk, und es bedürfte schon einer mutigen Stadt, auf die Angemessenheit einer solchen Maßnahme hinzuweisen. Genausogut könnte man von den Alar verlangen, für die Atemluft zu bezahlen, schließlich ist beides lebenswichtig. ›Ohne Gras werden die Bosk sterben‹, sagen sie. ›Und die Bosk werden leben‹, fügen sie dann hinzu. Meistens berühren sie nur die Grenzen eines der Stadtstaaten, aber manchmal, wenn es das Wetter oder der Zustand des Weidelandes vorschreiben, dringen sie auch tiefer in das Gebiet ein. In der Regel nimmt die offizielle Seite wenig Notiz von ihnen, man tauscht keine Kriegserklärungen aus, sondern betrachtet sie als unwillkommene Wanderer, als unberechenbare, gefährliche Besucher auf Zeit, mit denen die Bewohner des Landes eine unbehagliche Zeitlang zusammenleben müssen. Es gibt kaum einen Dorf- oder Stadtrat, der nicht aufatmet, wenn die Wagen ihr Land verlassen.

Die Frau, die Genserix die Nachricht überbracht hatte, drehte sich um und kehrte zu dem Wagen zurück.

Wird ein Land von Schwäche oder Chaos heimgesucht, werden die normalen sozialen Strukturen so zerstört, daß die öffentliche Ordnung mit ihrer Disziplin und Verantwortlichkeit zusammenbricht, ist es nur natürlich, daß Völker wie die Alar kommen. Sie haben die Neigung, über solche Orte herzufallen. Manchmal können sie sich dort ansiedeln und den Ackerboden zu dem ihren machen; manchmal nehmen sie die Verhaltensweisen und Vorrechte von adligen Erobern an und werden schließlich zu Begründern einer neuen Zivilisation. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß das von der cosischen Invasion verursachte Chaos daran schuld war, daß sich die Alar so weit nach Süden gewagt hatten. Andererseits hatte mir Mincon – bei dem ich auf der Straße des Genesian mitgefahren war – erzählt, daß man die Alar offiziell gebeten hatte, dem Heer als Kutscher und Nachschubbesorger zu dienen. In dieser Eigenschaft hielten sie sich in dieser Nähe zur Straße auf. Da sich die Alar auf dieses Angebot eingelassen hatten, befanden sie sich in der hervorragenden Position, die Geschehnisse zu verfolgen und – wenn es praktisch erschien – sofort etwas zu unternehmen. Hier konnten sie nach territorialen oder finanziellen Gelegenheiten Ausschau halten. Vielleicht hatten die Männer aus Cos, die keine Narren waren, sie eingeladen, damit sie in der Gegend blieben und so den Streitkräften Ars die Zurückeroberung erschwerten. Vielleicht hofften sie, die Alar durch Landschenkungen zu dankbaren, durch Treueide gebundenen Verbündeten zu machen.