Er drehte sich zu ihr um, starrte sie an, und seiner Miene zufolge war es so, als habe sein Essen gerade zu ihm gesprochen. »Habe ich dir die Erlaubnis erteilt, mir eine Frage zu stellen, Nan?«
»Nein, Mylord.« Sie senkte den Blick.
»Also hättest du nichts sagen sollen, nicht wahr?«
»Nein, Mylord.«
Einen Moment lang wirkte er vergnügt. »Ich werde dir die Frage trotzdem beantworten. Ich werde Harrenhal an Lord Vargo übergeben, wenn ich in den Norden zurückkehre. Du wirst hier bei ihm bleiben.«
»Aber ich …«, begann sie.
Er schnitt ihr das Wort ab. »Es ist nicht meine Gewohnheit, mich von Dienstboten ausfragen zu lassen, Nan. Muss ich dir erst die Zunge rausreißen?«
Das würde er genauso leicht tun, wie ein anderer Mann einen Hund trat, das wusste sie. »Nein, Mylord.«
»Dann werde ich nichts weiter von dir hören?«
»Nein, Mylord.«
»Dann geh. Ich werde deine Anmaßung vergessen.«
Arya ging, jedoch nicht in ihr Bett. Als sie hinaus in den dunklen Hof trat, nickte die Wache an der Tür ihr zu und sagte: »Es wird Sturm geben. Riechst du das, die Luft?« Der Wind war böig, die Flammen der Fackeln neben den Köpfen auf der Mauer flackerten. Auf dem Weg zum Götterhain kam sie am Klageturm vorbei, wo sie früher in Angst vor Wies gehaust hatte. Die Freys hatten den Turm für sich beschlagnahmt, nachdem Harrenhal gefallen war. Sie konnte wütende Stimmen aus einem Fenster hören, viele Männer stritten da. Elmar saß allein draußen auf den Stufen.
»Was ist denn los?«, fragte Arya ihn, als sie die Tränen sah, die auf seinen Wangen glänzten.
»Meine Prinzessin«, schluchzte er. »Wir sind entehrt worden, sagt Aenys. Von den Zwillingen ist ein Vogel eingetroffen. Mein Hoher Vater sagt, ich werde jetzt jemand anders heiraten oder Septon werden.«
Eine blöde Prinzessin, dachte sie, das ist doch kein Grund zum Heulen. »Meine Brüder sind vielleicht tot«, vertraute sie ihm an.
Elmar warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. »Niemanden interessieren die Brüder eines Zimmermädchens.«
Es war schwer, ihn für diese Worte nicht zu verprügeln. »Hoffentlich stirbt deine Prinzessin«, sagte sie und rannte davon, ehe er nach ihr greifen konnte.
Im Götterhain holte sie ihr Besenstielschwert aus dem Versteck und trug es zum Herzbaum. Dort kniete sie nieder. Rotes Laub raschelte. Rote Augen starrten tief in ihr Inneres. Die Augen der Götter. »Sagt mir, was ich tun soll, ihr Götter«, betete sie.
Eine Weile lang hörte sie nichts außer dem Wind und dem Wasser und dem Knarren des Astwerks und der Blätter. Dann heulte in weiter, weiter Ferne, jenseits des Götterhains und der gespenstischen Türme und riesigen Mauern von Harrenhal, dort draußen irgendwo in der Welt ein einsamer Wolf. Arya bekam eine Gänsehaut, und einen Augenblick schwindelte es ihr. Plötzlich meinte sie leise, ganz leise, die Stimme ihres Vaters zu hören. »Wenn der Schnee fällt und der weiße Wind bläst, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt«, sagte er.
»Aber es gibt kein Rudel«, flüsterte sie dem Wehrbaum zu. Bran und Rickon waren tot, die Lennisters hatten Sansa, Jon war zur Mauer gegangen. »Ich bin nicht einmal mehr ich selbst, ich bin Nan.«
»Du bist Arya von Winterfell, Tochter des Nordens. Du hast mir gesagt, du seist stark. In dir fließt das Blut des Wolfes.«
»Das Wolfsblut.« Jetzt erinnerte sich Arya. »Ich werde so stark sein wie Robb. Ich habe es versprochen.« Sie holte tief Luft, fasste den Besenstiel mit beiden Händen und legte ihn über ihre Knie. Mit lautem Krachen brach er, und sie warf die Stücke zur Seite. Ich bin ein Schattenwolf und brauche keine Holzzähne mehr.
In dieser Nacht lag sie in ihrem schmalen Bett auf dem kratzigen Stroh und lauschte den Stimmen der Lebenden und der Toten, die miteinander tuschelten und stritten, während sie auf den Mondaufgang wartete. Das waren die einzigen Stimmen, denen sie noch traute. Ihren eigenen Atem hörte sie, und auch die Wölfe, jetzt ein großes Rudel. Sie sind näher als der eine, den ich im Götterhain gehört habe. Und sie rufen nach mir.
Schließlich schlüpfte sie aus dem Bett, zog sich ein Hemd über und tappte barfuß die Treppe hinunter. Roose Bolton war ein vorsichtiger Mann, und der Eingang zum Königsbrandturm wurde Tag und Nacht bewacht, daher musste sie durch ein schmales Kellerfenster hinausschlüpfen. Der Hof war still, die große Burg lag in Spukträumen da. Über ihr pfiff der Wind durch den Klageturm.
In der Schmiede brannte kein Feuer, und die Türen waren verriegelt und verrammelt. Sie kletterte durch ein Fenster hinein, wie sie es schon einmal getan hatte. Gendry teilte sich eine Matratze mit zwei anderen Lehrlingen. Sie kauerte lange da, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie sicher war, dass derjenige am Ende wirklich Gendry war. Dann legte sie ihm eine Hand über den Mund und kniff ihn. Er schlug die Augen auf. Sehr tief konnte er nicht geschlafen haben. »Bitte«, flüsterte sie. Sie nahm die Hand von seinem Mund und zeigte nach draußen.
Einen Moment lang glaubte sie, er habe nicht verstanden, schließlich kam er unter der Decke hervor. Nackt tappte er durch den Raum, zog sich ein weites langes Wollhemd über und kletterte hinter ihr von dem Zwischenboden herunter, auf dem er geschlafen hatte. Die anderen rührten sich nicht. »Was willst du?«, fragte Gendry leise und wütend.
»Ein Schwert.«
»Schwarzdaumen hält die Klingen alle unter Verschluss, das habe ich dir schon hundert Mal gesagt. Ist es für Lord Egel?«
»Für mich. Mach das Schloss mit dem Hammer auf.«
»Dafür brechen sie mir die Hand«, knurrte er, »oder Schlimmeres.«
»Nicht, wenn du mit mir wegläufst.«
»Wenn du wegläufst, fangen sie dich und bringen dich um.«
»Dir werden sie etwas Schlimmeres antun. Lord Bolton überlässt Harrenhal dem Blutigen Mummenschanz, das hat er mir gesagt.«
Gendry strich sich das schwarze Haar aus den Augen. »Und?«
Sie blickte ihn furchtlos an. »Wenn Vargo Hoat der Lord ist, wird er allen Dienern die Füße abhacken, damit sie nicht mehr fliehen können. Den Schmieden auch.«
»Das ist doch nur ein Märchen«, höhnte er.
»Nein, es stimmt, ich habe es von ihm selbst gehört«, log sie. »Er wird allen einen Fuß abhauen. Den linken. Geh in die Küche und weck Heiße Pastete, er wird tun, was du ihm sagst. Wir brauchen Brot oder Haferkekse oder so etwas. Du holst die Schwerter, und ich kümmere mich um die Pferde. Wir treffen uns am Seitentor in der Ostmauer, hinter dem Geisterturm. Dort ist nie jemand.«
»Ich kenne das Tor. Es wird bewacht, genau wie alle anderen. «
»Und? Du wirst die Schwerter doch nicht vergessen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mitkomme.«
»Nein, aber wenn du mitkommst, wirst du doch die Schwerter nicht vergessen, oder?«
Er runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er endlich, »ich glaube, nicht.«
Arya schlich auf dem gleichen Weg in den Königsbrandturm zurück, auf dem sie ihn verlassen hatte, stahl sich die Wendeltreppe hinauf und lauschte auf Schritte. In ihrer Kammer zog sie sich aus und danach sorgfältig wieder an: Zwei Schichten Unterwäsche, warme Strümpfe, ihr sauberstes Wams. Es war Lord Boltons Livree. Auf der Brust war sein Wappen aufgenäht, der gehäutete Mann von Grauenstein. Sie band sich die Schuhe zu, warf einen Wollmantel um ihre hageren Schultern und knotete ihn unter dem Kinn zu. Leise wie ein Schatten stieg sie die Treppe wieder hinunter. Vor dem Solar des Lord hielt sie inne, lauschte an der Tür und schob sie sachte auf, als sie nichts hörte.
Die Karte aus Schafshaut lag noch auf dem Tisch, neben den Resten von Lord Boltons Abendessen. Arya rollte sie eng zusammen und steckte sie in ihren Gürtel. Der Lord hatte auch seinen Dolch auf dem Tisch liegen lassen, und den nahm sie ebenfalls, nur für den Fall, dass Gendry der Mut verließ.