»Wenn dieses Heer bei Sonnenuntergang noch vor meinen Toren steht, wird Beth hängen«, sagte Theon. »Beim Morgengrauen wird die nächste Geisel an der Reihe sein, und dann wieder eine bei Sonnenuntergang. Jeden Morgen und jeden Abend wird jemand sterben, bis Ihr abgezogen seid. Mir mangelt es nicht an Geiseln.« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wendete Lächler und ritt zurück zur Burg, zuerst gemächlich, dann ließ ihn jedoch der Gedanke an die Bogenschützen hinter ihm einen leichten Galopp einschlagen. Die kleinen Köpfe beobachteten ihn von ihren Spießen, ihre geteerten und gehäuteten Gesichter wurden mit jedem Meter größer; zwischen ihnen stand die kleine Beth Cassel weinend mit der Schlinge um den Hals. Theon gab Lächler die Sporen und trieb ihn zu vollem Galopp an. Lächlers Hufschlag dröhnte auf der Brücke wie Trommeln.
Im Hof stieg er ab und reichte Wex die Zügel. »Das wird sie vielleicht zurückhalten«, sagte er zu dem Schwarzen Lorren. »Bei Sonnenuntergang werden wir es genau wissen. Hol das Mädchen herein und pass auf sie auf.« Unter dem Leder, dem Stahl und der Wolle war er schweißnass. »Ich brauche einen Becher Wein. Ein Bottich Wein wäre noch besser.«
In Ned Starks Schlafgemach brannte ein Feuer. Theon saß neben dem Kamin und füllte sich einen Becher mit einem schweren Roten aus dem Keller der Burg, einem Wein, der so sauer war wie seine Stimmung. Sie werden angreifen, dachte er verbittert. Ser Rodrik liebt seine Tochter, aber er ist der Kastellan und vor allem ein Ritter. Hätte Theon dort mit einer Schlinge um den Hals gestanden und Lord Balon die Armee draußen befehligt, wären die Schlachthörner längst zum Angriff geblasen worden, daran zweifelte er nicht. Er sollte den Göttern dafür danken, dass Ser Rodrik kein Eisenmann war. Die Männer der Grünen Lande waren aus weicherem Holz geschnitzt, obwohl Theon nicht sicher war, ob es sich als weich genug erweisen würde.
Wenn nicht, wenn der alte Mann den Befehl gab, die Burg zu stürmen, würde Winterfell fallen; in dieser Hinsicht machte sich Theon keine Illusionen. Seine Siebzehn würden jeder drei, vier oder fünf Mann töten, am Ende würden sie jedoch überwältigt werden.
Über den Rand seines Bechers starrte Theon in die Flammen und grübelte darüber nach, wie ungerecht das alles war. »Ich bin neben Robb Stark in den Wisperwald geritten«, murmelte er. In jener Nacht hatte er Angst gehabt, jedoch nicht so wie jetzt. Es war eine Sache, inmitten von Freunden in die Schlacht zu ziehen, und eine ganz andere, einsam und verlassen seinem Untergang entgegenzusehen. Gnade, dachte er elendig.
Da der Wein keinen Trost spendete, schickte er Wex, seinen Bogen zu holen, und ging hinunter in den alten Innenhof. Dort stand er und schoss Pfeil um Pfeil auf die Zielscheiben ab, hielt nur inne, um die Pfeile für die nächste Runde wieder herauszuziehen, bis seine Schultern schmerzten und seine Finger blutig waren. Mit diesem Bogen habe ich Bran das Leben gerettet, erinnerte er sich. Ich wünschte, ich könnte nun meins retten. Frauen kamen zum Brunnen, verweilten dort jedoch nicht; was sie auf Theons Gesicht sahen, vertrieb sie rasch wieder.
Hinter ihm ragte der eingestürzte Turm auf, dessen Spitze gezackt war wie eine Krone, nachdem ein Feuer die oberen Stockwerke vor langer Zeit hatte zusammenbrechen lassen. Mit der Sonne bewegte sich auch der Schatten des Turms, wurde länger und griff wie ein schwarzer Arm nach Theon Graufreud. Als die Sonne schließlich die Mauer berührte, hatte der Schatten ihn gepackt. Wenn ich das Mädchen hänge, werden die Nordmänner sofort angreifen, dachte er, während er einen Pfeil fliegen ließ. Lasse ich sie nicht hängen, wissen sie, dass ich nur leere Drohungen ausstoße. Er legte einen weiteren Pfeil ein. Es gibt keinen Ausweg, keinen.
»Wenn Ihr hundert Bogenschützen hättet, die so gut wären wie Ihr, hättet Ihr eine Chance, die Burg zu halten«, sagte eine Stimme leise hinter ihm.
Als er sich umdrehte, stand Maester Luwin hinter ihm. »Lasst mich in Ruhe«, befahl Theon ihm. »Ich habe genug von Eurem Rat.«
»Und Leben? Habt Ihr davon auch genug, Mylord Prinz?«
Er hob den Bogen. »Ein Wort noch, und dieser Pfeil durchbohrt Euer Herz.«
»Das würdet Ihr nicht tun.«
Theon zog die grauen Gänsefedern am Schaft bis an die Wange. »Wollt Ihr darüber eine Wette abschließen?«
»Ich bin Eure letzte Hoffnung, Theon.«
Ich habe keine Hoffnung, dachte er. Dennoch senkte er den Bogen etwas. »Davonrennen werde ich nicht.«
»Von Flucht spreche ich nicht. Legt das Schwarz an.«
»Die Nachtwache?« Theon nahm langsam die Spannung aus dem Bogen und richtete die Pfeilspitze auf den Boden.
»Ser Rodrik hat sein ganzes Leben dem Hause Stark gedient, und das Haus Stark war stets ein Freund der Nachtwache. Er würde Euch diesen Wunsch nicht versagen. Öffnet die Tore, legt die Waffen nieder, akzeptiert die Bedingungen, und er muss Euch erlauben, das Schwarz anzulegen.«
Ein Bruder der Nachtwache. Keine Krone, keine Söhne, keine Ehefrau … aber er würde leben, und zwar ehrenhaft. Ned Starks eigener Bruder hatte die Nachtwache gewählt, und Jon Schnee ebenfalls.
Schwarze Kleidung habe ich genug, ich brauche nur die Kraken abzureißen. Sogar mein Pferd ist schwarz. In der Nachtwache könnte ich es weit bringen – Oberster Grenzer, vielleicht sogar Lord Kommandant. Soll Asha doch die verdammten Inseln behalten, sie sind genauso öde wie sie selbst. Wenn ich in Ostwacht diene, kann ich vielleicht mein eigenes Schiff befehligen, und jenseits der Mauer kann man wunderbar jagen. Und was die Weiber betrifft, welche Wildlingsfrau würde sich nicht gern mit einem Prinzen einlassen? Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Ein Mann in Schwarz ist kein Abtrünniger. Ich wäre so gut wie jeder andere Mann …
»PRINZ THEON!« Der Schrei riss ihn aus seinem Tagtraum. Kromm kam über den Hof gelaufen. »Die Nordmänner …«
Plötzlich packte ihn das Entsetzen. »Greifen sie an?«
Maester Luwin ergriff seinen Arm. »Noch ist Zeit. Hisst das Banner des Friedens …«
»Sie kämpfen«, stieß Kromm hervor. »Es sind noch mehr Soldaten eingetroffen, Hunderte, und zuerst sah es aus, als würden sie zu den anderen stoßen. Dann sind sie über die Leute des Kastellans hergefallen.«
»Ist es Asha?« War sie am Ende doch noch gekommen, um ihn zu retten?
Doch Kromm schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind Nordmänner, sage ich Euch. Mit einem blutigen Mann als Banner. «
Der gehäutete Mann von Grauenstein. Stinker hatte vor seiner Gefangennahme zum Bastard von Bolton gehört, erinnerte sich Theon. Es war kaum zu glauben, dass ein so abscheulicher Kerl die Boltons dazu bringen konnte, ein Bündnis zu brechen, doch alles andere ergab keinen Sinn. »Das muss ich mir selbst ansehen«, sagte Theon.
Maester Luwin folgte ihm. Als sie auf dem Wehrgang ankamen, war der Marktplatz bereits mit toten Männern und sterbenden Pferden übersät. Theon sah keinerlei Schlachtreihen, nur ein wildes Durcheinander von Bannern und Klingen. Rufe und Schreie hallten durch die kalte Herbstluft herüber. Ser Rodriks Männer waren an Zahl überlegen, die Männer von Grauenstein hingegen wurden besser geführt und hatten die anderen überrascht. Theon beobachtete ihre Angriffe, die kurzen Rückzüge und erneuten Angriffe, mit denen sie die größere Streitmacht jedes Mal aufs Neue auseinandertrieben, wenn diese sich zwischen den Häusern formieren wollte. Er hörte das Krachen, mit dem eiserne Äxte auf Eichenschilde niedergingen, und das schrille Wiehern verstümmelter Pferde. Das Gasthaus brannte.
Der Schwarze Lorren trat schweigend zu ihm. Die Sonne stand tief im Westen und überzog die Felder und Häuser mit glühendem Rot. Ein dünner, zitternder Schmerzensschrei gellte über die Mauern, und ein Schlachthorn ertönte jenseits der brennenden Häuser. Theon beobachtete einen Verwundeten, der sich unter Schmerzen über den Boden schleppte und sein Herzblut im Dreck vergoss, während er den Brunnen in der Mitte des Marktplatzes zu erreichen suchte. Er starb, bevor er dort ankam. Er trug ein Lederwams und einen kegelförmigen Helm, doch kein Abzeichen, das gezeigt hätte, auf welcher Seite er gekämpft hatte.