Der Mond stieg hinter einem Berg auf, die Sonne versank hinter einem anderen, und Jon schlug Funken mit einem Feuerstein und seinem Dolch, bis endlich der erste Rauch erschien. Qhorin kam dazu und stand vor ihm, derweil die erste Flamme aus der Rinde und den toten trockenen Tannennadeln emporzüngelte. »So schüchtern wie ein Mädchen in der Hochzeitsnacht«, sagte der große Grenzer leise, »und fast ebenso schön. Manchmal vergisst man vollkommen, wie schön ein Feuer sein kann.«
Eigentlich war er nicht der Mann, der über Mädchen und Hochzeitsnächte sprach. Soweit Jon wusste, hatte Qhorin sein ganzes Leben in der Nachtwache verbracht. Hat er jemals ein Mädchen geliebt oder sogar geheiratet? Er konnte die Frage nicht aussprechen. Stattdessen fächerte er dem Feuer Luft zu. Schließlich knisterte es fröhlich, und er zog sich die steifen Handschuhe aus, wärmte sich die Hände, seufzte und fragte sich, ob sich ein Kuss jemals so gut anfühlen könnte. Die Wärme floss durch seine Finger wie geschmolzene Butter.
Halbhand ließ sich auf dem Boden nieder und setzte sich mit verschränkten Beinen ans Feuer. Das flackernde Licht spielte über sein hartes Gesicht. Nur sie beide waren von den fünf Grenzern geblieben, die aus dem Klagenden Pass in die blaugraue Wildnis der Frostfänge geflohen waren.
Zuerst hatte Jon die Hoffnung gehegt, dass Knappe Dalbrück die Wildlinge in dem Pass festhalten könnte. Aber dann hatten sie das Horn aus der Ferne gehört, und sie wussten, der Knappe war gefallen. Später entdeckten sie den Adler, der auf seinen großen blaugrauen Schwingen durch die Dämmerung schwebte, und Steinschlange nahm seinen Bogen zur Hand, doch war der Vogel außer Reichweite. Ebben spuckte aus und murmelte etwas Düsteres über Warge und Leibwechsler vor sich hin.
Am Tag danach sahen sie den Adler noch zwei Mal, und sie hörten auch das Echo des Jagdhorns aus den Bergen hinter ihnen. Jedes Mal schien es ein wenig lauter zu sein, ein wenig näher. Bei Einbruch der Nacht hatte Halbhand Ebben befohlen, das Pferd des Knappen und sein eigenes zu nehmen und in aller Eile zu Mormont nach Osten zu reiten, den gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Die anderen würden die Verfolger ablenken. »Schickt Jon«, hatte Ebben gedrängt. »Er kann genauso schnell reiten wie ich.«
»Jon hat eine andere Rolle zu spielen.«
»Er ist noch ein halber Junge.«
»Nein«, entgegnete Qhorin, »er ist ein Mann der Nachtwache. «
Bei Mondaufgang hatte Ebben sie verlassen. Steinschlange ging ein Stück mit ihm nach Osten, kehrte dann um und verwischte ihre Spuren, und die verbliebenen drei brachen in Richtung Südwesten auf.
Danach vermischten sich Tag und Nacht miteinander. Die Männer schliefen im Sattel und hielten nur lange genug an, um die Pferde zu füttern und zu tränken, dann stiegen sie wieder auf. Über nackte Felsen ritten sie, durch düstere Kiefernwälder und alte Schneewehen, über eisige Bergrücken und durch seichte Flüsse, die keinen Namen hatten. Manchmal verwischten Qhorin oder Steinschlange ihre Spuren, doch das war eine vergebliche Mühe. Sie wurden beobachtet. In der Morgen- und in der Abenddämmerung sahen sie den Adler zwischen den Gipfeln schweben, kaum so groß wie ein Punkt in der riesigen Weite des Himmels.
Sie stiegen gerade einen Hang zwischen zwei schneebedeckten Gipfeln hinunter, als eine Schattenkatze keine zehn Meter entfernt von ihrem Lager aufsprang und fauchte. Das Tier war mager und halb verhungert, doch bei seinem Anblick geriet Steinschlanges Stute in Panik; sie bäumte sich auf und rannte los, und ehe der Grenzer sie wieder im Griff hatte, war sie auf dem steilen Hang gestolpert und hatte sich ein Bein gebrochen.
Für Geist gab es an diesem Tag ein Festmahl, und Qhorin bestand darauf, dass die Grenzer das Blut des Pferdes mit ihrer Hafergrütze vermischten, damit sie Kraft gewönnen. Beim Geschmack dieses Breis musste sich Jon beinahe übergeben, er zwang sich jedoch, ihn zu essen. Sie schnitten ein Dutzend Streifen aus dem rohen zähen Fleisch, auf denen sie während des Ritts herumkauten, und überließen den Rest den Schattenkatzen.
Die Frage, ob zwei Mann auf einem Pferd reiten sollten, stellte sich nicht. Steinschlange bot an, sich in einen Hinterhalt zu legen und die Verfolger zu überraschen, wenn sie kamen. Vielleicht konnte er ein paar von ihnen mit in die Hölle nehmen. Qhorin war dagegen. »Wenn es jemand aus der Nachtwache schaffen kann, allein und zu Fuß aus den Frostfängen herauszukommen, dann du, Bruder. Du kannst Berge überwinden, um die ein Pferd herumgehen muss. Mach dich zur Faust auf. Sag Mormont, was Jon gesehen hat, und auch, auf welche Weise er es gesehen hat. Sag ihm, die alten Mächte würden erwachen, dass er es mit Riesen und Wargen und Schlimmerem zu tun bekommt. Die Bäume haben wieder Augen, berichte ihm auch das.«
Er hat keine Chance, dachte Jon, während er Steinschlange nachblickte, der hinter einem schneebedeckten Hang verschwand wie ein kleiner schwarzer Käfer, der über eine geriffelte weiße Fläche läuft.
Jede Nacht schien es kälter zu werden, und einsamer dazu. Geist blieb nicht immer bei ihnen, war jedoch nie weit entfernt. Selbst wenn sie nicht zusammen waren, spürte Jon seine Nähe. Darüber war er froh. Halbhand war nicht gerade besonders gesellig. Qhorins langer grauer Zopf schwang mit der Bewegung seines Pferdes langsam hin und her. Oft ritten sie stundenlang und sprachen kein einziges Wort, dann war nur das Scharren der Hufe auf dem Boden und das Klagen des Windes zu hören, der unaufhörlich durch die Berge blies. Wenn Jon schlief, träumte er nicht; nicht von Wölfen, nicht von seinen Brüdern. Überhaupt nicht. Hier oben können nicht einmal Träume leben, dachte er.
»Ist dein Schwert scharf, Jon Schnee?«, fragte Qhorin Halbhand über das flackernde Feuer hinweg.
»Mein Schwert ist aus valyrischem Stahl. Der Alte Bär hat es mir geschenkt.«
»Erinnerst du dich noch an die Worte deines Gelübdes?«
»Ja.« Solche Worte vergaß man nicht. Einmal gesagt, konnte man sie niemals zurücknehmen. Sie veränderten das Leben für immer.
»Sprich sie zusammen mit mir, Jon Schnee.«
»Wenn Ihr wollt.« Ihre Stimmen vermischten sich unter dem aufgehenden Mond zu einer einzigen, während Geist lauschte und sich die Berge als Zeugen anboten. »Die Nacht sinkt herab, und meine Wacht beginnt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod. Ich will mir keine Frau nehmen, kein Land besitzen, keine Kinder zeugen. Ich will keine Kronen tragen und auch keinen Ruhm begehren. Ich will auf meinem Posten leben und sterben. Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Ich bin der Wächter auf den Mauern. Ich bin das Feuer, das gegen die Kälte brennt, das Licht, das den Morgen bringt, das Horn, das die Schläfer weckt, der Schild, der die Reiche der Menschen schützt. Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache, in dieser Nacht und in allen Nächten, die da noch kommen werden.«
Nachdem sie geendet hatten, war kein Laut zu hören außer dem leisen Knistern der Flammen und dem fernen Säuseln des Windes. Jon ballte die verbrannten Finger zur Faust und öffnete sie wieder, bewahrte die Worte im Sinn und betete, dass ihm die Götter seines Vaters die Kraft geben mochten, tapfer zu sterben, wenn seine Stunde gekommen wäre. Lange konnte es nicht mehr dauern. Die Pferde waren am Ende. Qhorins Tier würde den nächsten Tag vermutlich nicht überstehen.
Inzwischen war das Holz heruntergebrannt, und die Wärme ließ nach. »Bald wird das Feuer erlöschen«, sagte Qhorin, »doch sollte die Mauer jemals fallen, werden alle Feuer ausgehen.«
Darauf wusste Jon nichts zu antworten. Er nickte.
»Vielleicht werden wir ihnen entkommen«, sagte der Grenzer. »Vielleicht auch nicht.«