»Bran?« Das war Meeras Stimme. »Du hast um dich geschlagen und fürchterliche Geräusche gemacht. Was hast du gesehen?«
»Winterfell.« Seine Zunge fühlte sich fremd und dick an. Eines Tages werde ich nicht mehr wissen, wie man spricht, wenn ich zurückkomme. »Es war Winterfell. Alles hat gebrannt. Es hat nach Pferden und Stahl und Blut gerochen. Sie haben alle umgebracht, Meera.«
Er fühlte ihre Hand auf seinem Gesicht, als sie ihm das Haar zurückstrich. »Du bist ganz verschwitzt«, stellte sie fest. »Möchtest du etwas trinken?«
»Ja«, sagte er. Sie hielt ihm den Schlauch an die Lippen, und Bran schluckte so hastig, dass ihm das Wasser aus den Mundwinkeln rann. Er war immer so schwach und durstig, wenn er zurückkam. Und hungrig. Er erinnerte sich an das sterbende Pferd, an den Geschmack des Blutes, an den Geruch verbrannten Fleisches in der Morgenluft. »Wie lange?«
»Drei Tage«, antwortete Jojen. Der Junge war gerade erst herangeschlichen, oder er war die ganze Zeit da gewesen; in dieser blinden schwarzen Welt konnte Bran es nicht sagen. »Wir hatten Angst um dich.«
»Ich war bei Sommer«, meinte Bran.
»Zu lange. Du wirst noch verhungern. Meera hat dir ein bisschen Wasser in den Rachen geträufelt, und wir haben dir Honig in den Mund gestrichen, aber das genügt nicht.«
»Ich habe gegessen«, erwiderte Bran. »Wir haben einen Elch gejagt und mussten eine Baumkatze vertreiben, die ihn stehlen wollte.« Die Katze war hell- und dunkelbraun gewesen und nur halb so groß wie die Schattenwölfe, dafür jedoch sehr wild. Er erinnerte sich noch an ihren Moschusgeruch und daran, wie sie sie vom Ast einer Eiche herab angefaucht hatte.
»Der Wolf hat gefressen«, widersprach Jojen, »nicht du. Pass auf, Bran. Vergiss nicht, wer du bist.«
Er erinnerte sich allzu gut daran, wer er war; Bran der Knabe, Bran der Krüppel. Lieber Bran der Tierling. War es ein Wunder, dass er sich in seinen Sommerträumen, seinen Wolfsträumen wohler fühlte? Hier in der kalten feuchten Dunkelheit der Gruft hatte sich sein drittes Auge endlich geöffnet. Er konnte Sommer erreichen, wann immer er wollte, und einmal hatte er sogar Geist erreicht und zu Jon gesprochen. Obwohl er das vielleicht nur geträumt hatte. Er konnte nicht verstehen, warum Jojen jetzt immer versuchte, ihn zurückzuholen. Bran stemmte sich mit den Armen in eine sitzende Position. »Ich muss Osha sagen, was ich gesehen habe. Ist sie hier? Wohin ist sie gegangen?«
Die Wildlingsfrau antwortete: »Nirgendwohin, Mylord. Ich bin genug im Dunkeln herumgetappt.« Er hörte einen Fuß auf Stein scharren und drehte den Kopf in die Richtung, sah jedoch nichts. Er meinte sie riechen zu können, war sich jedoch nicht sicher. Sie stanken alle gleich, und er hatte nicht so eine feine Nase wie Sommer, der sie unterscheiden konnte. »Letzte Nacht habe ich einem König auf den Fuß gepinkelt«, fuhr Osha fort. »Oder vielleicht auch heute Morgen, wer kann das schon sagen? Ich habe geschlafen, jetzt schlafe ich nicht.« Sie schliefen alle sehr viel, nicht nur Bran. Sonst gab es nichts zu tun. Schlafen und essen und wieder schlafen, und manchmal ein bisschen reden … doch nicht viel, und immer im Flüsterton, das war sicherer. Osha wäre es lieber, wenn sie überhaupt nicht redeten, doch es war unmöglich, Rickon daran zu hindern, und Hodor davon abzuhalten, endlos »hodor, hodor, hodor« vor sich hin zu murmeln.
»Osha«, sagte Bran, »ich habe Winterfell brennen sehen.« Zu seiner Linken konnte er Rickon leise atmen hören.
»Ein Traum«, meinte Osha.
»Ein Wolfstraum«, ergänzte Bran. »Ich konnte es auch riechen. Nichts riecht wie Feuer oder Blut.«
»Wessen Blut?«
»Menschen, Pferde, Hunde, alle. Wir müssen nachsehen.«
»Diese dünne Haut ist die einzige, die ich habe«, entgegnete Osha. »Wenn dieser Krakenprinz mich erwischt, wird er mich auspeitschen, bis davon nur noch Streifen übrig sind.«
Meera fand im Dunkeln Brans Hand und drückte sie leicht. »Ich kann an deiner Stelle gehen, wenn du Angst hast.«
Bran hörte Finger an Leder herumfummeln, darauf folgte das Geräusch von Stahl, der auf einen Feuerstein geschlagen wurde. Noch einmal. Ein Funken flog, und Zunder fing Feuer. Osha blies vorsichtig. Eine lange helle Flamme reckte sich in die Höhe wie ein Mädchen auf Zehenspitzen. Oshas Gesicht schwebte darüber. Sie hielt die Flamme an eine Fackel. Bran musste blinzeln, als das Pech zu brennen begann und die Welt mit seinem orangefarbenen Licht erfüllte. Die Helligkeit weckte Rickon, der sich gähnend aufsetzte.
Durch die Schatten, die sich bewegten, sah es einen Moment lang aus, als würden die Toten sich ebenfalls erheben. Lyanna und Brandon, Lord Rickard Stark, Lord Edwyl, Lord Willam und sein Bruder Artos der Unversöhnliche, Lord Donnor und Lord Beron und Lord Rodwell, der einäugige Lord Jonnel, Lord Barth und Lord Brandon und Lord Cregan, der gegen den Drachenritter gekämpft hatte. Auf ihren Steinthronen saßen sie, mit Steinwölfen zu ihren Füßen. Hierher kamen sie, wenn alle Wärme ihre Leiber verlassen hatte; dies war die dunkle Halle der Toten, welche die Lebenden nur mit Furcht betraten.
Und im Eingang der leeren Grabnische, die auf Lord Eddard Stark wartete, hockten die sechs Flüchtlinge unter der majestätischen Granitstatue, um ihren kleinen Vorrat aus Brot und Wasser und getrocknetem Fleisch herum. »Kaum noch etwas übrig«, murmelte Osha, während sie die Vorräte durchging. »Ich muss sowieso bald nach oben gehen und etwas zu essen stehlen, sonst müssen wir noch Hodor auffressen. «
»Hodor«, sagte Hodor und grinste sie an.
»Ist es draußen Tag oder Nacht?«, fragte sich Osha. »Ich habe alles Zeitgefühl verloren.«
»Tag«, sagte Bran, »aber es ist ganz dunkel vom Rauch.«
»Ist Mylord sicher?«
Er bewegte seinen zerschmetterten Körper nicht und streckte doch die Hand aus, und einen Augenblick lang sah er doppelt. Dort stand Osha mit der Fackel, und Meera und Jojen und Hodor und die doppelte Reihe hoher Granitsäulen und die längst toten Lords dahinter in der Dunkelheit … doch dort war auch Winterfell, grau und von Rauch eingehüllt, die schweren eisenbeschlagenen Eichentore waren verkohlt und auseinandergebrochen, von der Zugbrücke war nur ein Gewirr zerrissener Ketten und fehlender Bretter geblieben. Leichen schwammen im Wassergraben, Inseln für die Raben.
»Sicher«, verkündete er.
Osha brauchte einen Moment, bis sie das verdaut hatte. »Dann werde ich mal einen Blick riskieren. Ihr bleibt aber dicht hinter mir. Meera, hol Brans Korb.«
»Gehen wir nach Hause?«, fragte Rickon aufgeregt. »Ich will mein Pferd. Und Apfelkuchen und Butter und Honig und Struppi. Gehen wir dorthin, wo Struppel ist?«
»Ja«, versprach Bran, »aber du musst ganz leise sein.«
Meera schnallte Hodor den Weidenkorb auf den Rücken, half, Bran hineinzusetzen, und schob seine gelähmten Beine durch die Löcher. Er hatte ein seltsames Gefühl im Bauch. Er wusste, was sie oben erwartete, aber deswegen hatte er nicht weniger Angst. Als sie aufbrachen, drehte er sich um und warf der Statue seines Vaters einen letzten Blick zu, und es erschien Bran, als sähe er Trauer in Lord Eddards Augen, als wollte er nicht, dass sie fortgingen. Wir müssen, dachte er, es ist Zeit.
Osha trug ihren langen Eichenspeer in der einen Hand und die Fackel in der anderen. Ein Schwert ohne Scheide hatte sie sich über den Rücken gehängt, eins der letzten, die Mikkens Zeichen trugen. Er hatte es für Lord Eddards Gruft geschmiedet, um seinen Geist zu beruhigen. Da Mikken jedoch ermordet worden war, und die Eisenmänner die Waffenkammer bewachten, konnten sie gutem Stahl nicht widerstehen, selbst wenn sie ein Grab ausrauben mussten. Meera hatte Lord Rickards Klinge genommen und beschwerte sich nun, sie sei zu schwer. Bran holte sich die Waffe seines Namensvetters, das Schwert des Onkels, den er nie kennengelernt hatte. Er wusste, dass er im Falle eines Kampfes nur von wenig Nutzen sein würde, doch die Klinge fühlte sich trotzdem gut in seiner Hand an.