Der Kleine Walder lachte spöttisch. »Er war es leid, auf den Tod unseres Großvaters zu warten, meinst du wohl. Ist Ser Emmon demnach jetzt der Erbe?«
»Sei doch nicht blöd«, widersprach sein Vetter. »Die Söhne des ersten Sohnes kommen vor dem zweiten Sohn an die Reihe. Ser Ryman ist der Nächste, und dann Edwyn und der Schwarze Walder und Petyr Pickel. Und dann Aegon und alle seine Söhne.«
»Ryman ist auch schon alt«, entgegnete der Kleine Walder. »Über vierzig, wette ich. Und er hat einen schlimmen Bauch. Glaubst du, er wird Lord?«
»Ich werde Lord. Es ist mir gleichgültig, ob er dran ist.«
Maester Luwin unterbrach die beiden brüsk. »Ihr solltet Euch schämen, so daherzureden, Mylords. Trauert Ihr denn gar nicht? Euer Onkel ist tot.«
»Ja«, sagte der Kleine Walder, »wir sind sehr bekümmert. «
Aber das waren sie nicht. Bran verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Der Geschmack dieser Speise gefällt ihnen besser als mir. Er bat Maester Luwin, ihn zu entschuldigen.
»Sehr wohl.« Der Maester klingelte. Hodor hatte offensichtlich in den Stallungen zu tun. Stattdessen kam Osha. Sie war stärker als Bierbauch, und ihr fiel es nicht schwer, Bran hochzuheben und ihn die Treppe hinunterzutragen.
»Osha«, fragte Bran, während sie den Hof überquerten, »kennst du den Weg nach Norden? Zur Mauer … und darüber hinaus?«
»Der Weg ist leicht zu finden. Halt nach dem Eisdrachen Ausschau und jage den blauen Stern im Auge des Reiters.« Sie ging rückwärts durch eine Tür und nahm die Wendeltreppe in Angriff.
»Und gibt es dort immer noch Riesen … und den Rest … die Anderen und die Kinder des Waldes?«
»Die Riesen habe ich gesehen, von den Kindern nur Geschichten gehört und von den Weißen Wanderern … warum willst du das wissen?«
»Hast du je eine dreiäugige Krähe gesehen?«
»Nein.« Sie lachte. »Ich kann auch nicht behaupten, dass ich das möchte.« Osha stieß die Tür seines Zimmers mit dem Fuß auf und setzte ihn auf die Fensterbank, von wo aus er in den Hof hinunterschauen konnte.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da ging sie schon wieder auf, und Jojen Reet trat ungebeten mit seiner Schwester Meera ein. »Habt ihr von dem Vogel gehört?«, fragte Bran. Der andere Junge nickte. »Es war nichts zum Essen, wie du gesagt hast. Es war ein Brief von Robb, und wir haben ihn nicht verspeist, sondern …«
»Die Grünen Träume nehmen manchmal eigentümliche Gestalt an«, gab Jojen zu. »Ihre Wahrheit ist nicht immer leicht zu verstehen.«
»Erzähl mir deinen schlimmen Traum«, sagte Bran. »Über das Böse, das nach Winterfell kommt.«
»Glaubt Mylord Prinz mir jetzt? Vertraut er meinen Worten, gleichgültig, wie seltsam sie in seinen Ohren klingen?«
Bran nickte.
»Es ist das Meer, das kommt.«
»Das Meer?«
»Ich habe geträumt, das Meer würde überall um Winterfell herumplätschern. Ich habe schwarze Wellen gesehen, die gegen die Tore und Türme brandeten, und dann floss das Salzwasser über die Mauern und hat die ganze Burg gefüllt. Ertrunkene Männer sind im Hof umhergetrieben. Als ich den Traum zum ersten Mal hatte, noch in Grauwasser, kannte ich die Gesichter nicht, aber inzwischen schon. Dieser Bierbauch ist einer von ihnen, die Wache, die auf dem Fest unsere Namen verkündet hat. Euer Septon ist auch unter ihnen. Und euer Schmied.«
»Mikken?« Bran war gleichermaßen verwirrt und entsetzt. »Aber das Meer ist Hunderte und Aberhunderte Meilen weit weg, und Winterfells Mauern sind so hoch, dass es sie niemals überfluten könnte, selbst wenn es käme.«
»Im Dunkel der Nacht wird das Salzmeer diese Mauern überfluten«, sagte Jojen. »Ich habe die Toten gesehen, ertrunken und aufgedunsen.«
»Wir müssen es ihnen erzählen«, fuhr Bran auf. »Bierbauch und Mikken und Septon Chayle. Wir müssen ihnen sagen, sie sollen nicht ertrinken.«
»Das wird sie nicht retten«, entgegnete der Junge in Grün.
Meera trat zur Fensterbank und legte Bran die Hand auf die Schulter. »Sie würden es nicht glauben, Bran. Genauso wie du zuerst.«
Jojen setzte sich aufs Bett. »Erzähl mir, was du träumst.«
Selbst jetzt fürchtete er sich noch, doch er hatte geschworen, ihnen zu vertrauen, und ein Stark von Winterfell hielt ein gegebenes Wort. »Verschiedenes«, begann er zögerlich. »Die Wolfsträume sind nicht so schlimm wie die anderen. Ich laufe und jage und fange Eichhörnchen. In den anderen Träumen kommt die Krähe und befiehlt mir zu fliegen. Manchmal ist da auch der Baum, der meinen Namen ruft. Das macht mir Angst. Doch der schlimmste Traum ist der, in dem ich falle.« Er blickte hinunter in den Hof und fühlte sich elend. »Früher bin ich nie gefallen. Wenn ich geklettert bin. Ich war überall, auf den Dächern und auf den Mauern. Ich habe sogar die Krähen auf dem Ausgebrannten Turm gefüttert. Mutter hatte immer Angst, ich könnte abstürzen, aber ich wusste, dass mir das niemals passieren würde. Nun ist es doch geschehen, und jetzt falle ich ständig, wenn ich schlafe.«
Meera drückte seine Schulter. »Ist das alles?«
»Ich glaube schon.«
»Warg«, sagte Jojen Reet.
Bran sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was?«
»Warg. Leibwechsler. Tierling. So werden sie dich nennen, wenn sie jemals von deinen Wolfsträumen erfahren.«
Die Namen flößten ihm abermals Furcht ein. »Wer wird mich so nennen?«
»Dein eigenes Volk. Aus Angst. Manche werden dich hassen, wenn sie wissen, was du bist. Einige werden sogar versuchen, dich zu töten.«
Die Alte Nan hatte ihm fürchterliche Geschichten über Tierlinge und Leibwechsler erzählt. In diesen Märchen waren solche Wesen stets böse. »So etwas bin ich nicht«, erwiderte Bran. »Nein. Das sind nur Träume.«
»Die Wolfsträume sind keine richtigen Träume. Du hast dein Auge fest geschlossen, solange du wach bist, aber sobald du einschläfst, schlägst du es auf, und deine Seele sucht ihre andere Hälfte. Die Macht ist stark in dir.«
»Ich will sie nicht. Ich will ein Ritter werden.«
»Ein Ritter willst du werden. Ein Warg bist du. Daran kannst du nichts ändern, Bran, du darfst es weder leugnen noch verdrängen. Du bist der geflügelte Wolf, aber du wirst niemals fliegen.« Jojen stand auf und ging zum Fenster. »Solange du dein Auge nicht öffnest.« Er legte zwei Finger zusammen und stieß Bran heftig gegen die Stirn.
Als er die Hand auf die Stelle legte, spürte Bran nur glatte, unversehrte Haut. Da war kein Auge, auch kein geschlossenes. »Wie kann ich es öffnen, wenn es nicht da ist.«
»Mit den Händen findest du das Auge nie, Bran. Du musst es mit dem Herzen suchen.« Jojen musterte Brans Gesicht mit seinen seltsam grünen Augen. »Oder hast du Angst?«
»Maester Luwin sagt, in Träumen gibt es nichts, das ein Mann fürchten muss.«
»Doch«, entgegnete Jojen.
»Was denn?«
»Die Vergangenheit. Die Zukunft. Die Wahrheit.«
Sie ließen ihn verwirrter zurück als je zuvor. Nachdem sie gegangen waren, versuchte Bran das dritte Auge zu öffnen, doch er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Wie sehr er auch die Stirn runzelte und daran herumstocherte, er entdeckte keinen Unterschied. In den folgenden Tagen wollte er die anderen vor dem warnen, was Jojen gesehen hatte, doch es verlief ganz anders, als er sich das vorstellte. Mikken dachte, er mache Scherze. »Das Meer, wirklich? Ich wollte schon immer mal zum Meer. Aber ich bin noch nie hingekommen. Und jetzt kommt es zu mir, ja? Die Götter sind gütig, so viel Mühe für einen armen Schmied.«
»Die Götter werden mich zu sich rufen, wann sie es für richtig halten«, sagte Septon Chayle leise, »obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, dass ich ertrinke, Bran. Ich bin am Ufer der Weißklinge aufgewachsen, wie du weißt, und deshalb ein guter Schwimmer.«
Bierbauch war der Einzige, der seiner Warnung Beachtung schenkte. Er ging sogar selbst zu Jojen, und hinterher badete er nicht mehr und weigerte sich, in die Nähe des Brunnens zu gehen. Schließlich stank er so sehr, dass ihn sechs andere Wachen packten, in einen Zuber steckten und ihn grob abschrubbten, während er schrie, sie würden ihn ertränken, wie der Froschjunge gesagt hatte. Danach warf er Bran und Jojen stets böse Blicke zu, wenn er sie irgendwo in der Burg sah, und murmelte dazu leise in seinen Bart.