Wies konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass Arya lesen konnte, daher gab er sich nie die Mühe, die Nachrichten zu versiegeln. Arya las sie alle, doch sie waren belanglos, nur so dummes Zeug wie: Schickt diesen Wagen zum Speicher und jenen zur Waffenkammer. Mit einem der Briefe wollte er Spielschulden eines Ritters eintreiben, doch der Mann konnte nicht lesen. Als sie ihm den Inhalt erklärte, wollte der Kerl sie schlagen, doch Arya duckte sich, schnappte sich ein silberverziertes Trinkhorn von seinem Sattel und rannte davon. Der Ritter brüllte und rannte hinter ihr her, doch sie schlüpfte zwischen zwei Wagen hindurch, drängte sich durch eine Gruppe Bogenschützen und sprang über einen Latrinengraben. In seiner Rüstung würde er nicht mithalten können. Als sie Wies das Horn reichte, sagte dieser, ein schlaues kleines Wiesel wie sie habe eine Belohnung verdient. »Ich habe mir für heute Abend zum Essen einen fetten, knusprigen Kapaun ausgesucht. Den werden wir uns teilen, du und ich. Wird dir schmecken.«
Überall, wohin sie ging, suchte Arya nach Jaqen H’ghar, denn sie wollte ihm noch einen weiteren Namen zuflüstern, bevor alle, die sie hasste, außer Reichweite waren, doch inmitten des Durcheinanders war der Söldner aus Lorath nirgends zu entdecken. Er schuldete ihr noch immer zwei Tode, und sie fürchtete, dass sie diese niemals bekommen würde, wenn er mit den anderen in die Schlacht zog. Schließlich brachte sie ihren ganzen Mut auf und fragte eine der Torwachen, ob er schon aufgebrochen sei. »Ist das einer von Lorchs Männern?«, fragte die Wache zurück. »Dann wird er nicht ausrücken. Seine Lordschaft hat Ser Amory zum Kastellan von Harrenhal bestellt. Der ganze Haufen bleibt hier und hält die Burg. Der Blutige Mummenschanz wird ebenfalls zurückbleiben und sich um die Vorräte kümmern. Diese Ziege Vargo Hoat wird vermutlich Gift und Galle spucken; er und Lorch haben sich schon immer gehasst.«
Der Reitende Berg würde allerdings mit Lord Tywin ausziehen. Er befehligte die Vorhut in der Schlacht, und damit wären Dunsen, Polliver und Raff ihrem Zugriff entzogen, wenn sie Jaqen nicht fand und ihn einen von ihnen vor ihrem Aufbruch umbringen ließ.
»Wiesel«, sagte Wies an diesem Nachmittag, »geh zur Waffenkammer und sag Lucan, Ser Lyonel hat bei den Übungen sein Schwert beschädigt und braucht ein neues. Hier ist der Befehl.« Er reichte ihr ein viereckiges Stück Papier. »Beeil dich, er soll mit Ser Kevan Lennister reiten.«
Arya nahm das Papier und rannte los. Die Waffenkammer grenzte an die Burgschmiede, ein langes tunnelartiges Gebäude mit hohem Dach, an dessen Wänden sich zwanzig Essen, Ambosse und große Wassertröge befanden, in denen der Stahl gehärtet wurde. An der Hälfte der Essen wurde gearbeitet, als sie eintrat. Von den Wänden hallte das Scheppern der Hammerschläge wider, und stämmige Männer mit Lederschürzen standen schwitzend in der Hitze über ihre Balgen und Ambosse gebeugt. Sie entdeckte Gendry, dessen nackte Brust von Schweiß glänzte, doch die blauen Augen unter dem schwarzen Haar hatten noch immer den gleichen störrischen Blick, an den sie sich erinnerte. Arya wusste nicht recht, ob sie überhaupt mit ihm sprechen wollte. Es war seine Schuld, dass sie alle gefangen genommen worden waren. »Wer ist Lucan?« Sie streckte ihm das Papier entgegen. »Ich soll ein neues Schwert für Ser Lyonel holen.«
»Vergiss Ser Lyonel.« Er zog sie am Arm beiseite. »Letzte Nacht hat Heiße Pastete mich gefragt, ob ich gehört hätte, wie du damals bei dem Kampf im Bergfried Winterfell gerufen hast, als wir auf der Mauer standen.«
»Hab ich doch gar nicht.«
»Hast du doch. Ich hab’s gehört.«
»Alle haben irgendetwas gerufen«, rechtfertigte sich Arya. »Heiße Pastete hat Heiße Pastete geschrien. Und zwar mindestens hundert Mal.«
»Was mich interessiert, ist, was du gerufen hast. Ich habe Heiße Pastete gesagt, er solle sich mal die Ohren waschen, du hättest Fahrt zur Hölle! gerufen. Wenn er dich danach fragt, antwortest du am besten das Gleiche.«
»Gut«, erwiderte sie, obwohl sie Fahrt zur Hölle! für einen blöden Schlachtruf hielt. Dennoch wagte sie es nicht, Heiße Pastete zu erzählen, wer sie wirklich war. Vielleicht sollte ich Jaqen Heiße Pastetes Namen zuflüstern.
»Ich hole Lucan«, sagte Gendry.
Lucan grunzte, während er das Schreiben las (obwohl Arya eher glaubte, dass er gar nicht lesen konnte), und holte ein schweres Langschwert. »Das hier ist zu gut für dieses Rindvieh, und richte ihm aus, dass ich das gesagt habe«, trug er ihr auf und reichte ihr die Waffe.
»Das mache ich«, log sie. Wenn sie das wirklich täte, würde Wies sie dafür grün und blau prügeln. Sollte Lucan seine Beleidigungen doch selbst loswerden.
Das Langschwert war wesentlich schwerer als Nadel, doch Arya gefiel es. Mit dem Gewicht in den Händen fühlte sie sich stärker. Ich bin zwar vielleicht keine Wassertänzerin, aber eine Maus bin ich auch nicht. Eine Maus könnte mit einem solchen Schwert nicht umgehen, ich jedoch schon. Das Tor stand offen, Soldaten kamen und gingen, Wagen rollten leer herein und ächzten und schwankten beim Hinausfahren unter ihrer Last. Sie dachte daran, in die Stallungen zu gehen und zu behaupten, Ser Lyonel wolle ein neues Pferd. Sie hatte das Papier, und die Stallburschen konnten bestimmt nicht besser lesen als Lucan. Mit dem Schwert und dem Pferd könnte ich einfach hinausreiten. Wenn die Wachen mich anhalten, würde ich ihnen das Papier zeigen und behaupten, ich soll die Sachen zu Ser Lyonel bringen. Sie hatte keine Ahnung, wie dieser Ser Lyonel aussah oder wo sie ihn finden könnte. Falls man sie ausfragte, würde das herauskommen, und dann würde Wies … Während sie auf ihrer Unterlippe herumkaute und nicht darüber nachzudenken versuchte, wie es wohl war, wenn einem die Füße abgeschnitten wurden, ging eine Gruppe Bogenschützen in Lederwams und Eisenhelmen vorbei. Die Bögen hatten sie über die Schultern geschlungen. Arya hörte Fetzen ihres Gesprächs.
»… Riesen, sag ich dir, er hat Riesen, die sechs Meter groß sind und von jenseits der Mauer kommen. Die folgen ihm wie Hunde …«
»… nicht natürlich, die sind so schnell über sie hergefallen, bei Nacht. Er ist mehr Wolf als Mensch, wie alle Starks …«
»… scheiß auf deine Wölfe und Riesen, der Junge würde sich in die Hose machen, wenn er wüsste, dass wir kommen. Er war nicht einmal Manns genug, nach Harrenhal zu marschieren. Stattdessen ist er in die andere Richtung gezogen, oder nicht? Jetzt würde er abhauen, wenn er wüsste, was gut für ihn ist.«
»Das sagst du jetzt, aber möglicherweise weiß der Junge etwas, das wir nicht wissen, vielleicht sollten wir lieber selbst abhauen …«
Ja, dachte Arya. Ja, ihr seid es, die besser davonlaufen sollten, ihr und Lord Tywin und der Reitende Berg und Ser Addam und Ser Amory und dieser dumme Ser Lyonel, wer immer das ist, ihr alle solltet lieber davonlaufen, oder mein Bruder wird euch töten, er ist ein Stark, er ist mehr Wolf als Mensch, und ich ebenso.