Die Frauen in Grau neigten die Köpfe. Die Schweigenden Schwestern sprechen nicht mit den Lebenden, erinnerte sich Catelyn dumpf, aber mancher behauptet, sie könnten mit den Toten reden. Wie sie die Schwestern darum beneidete …
DAENERYS
Die Vorhänge hielten den Staub und die Hitze der Straße fern, doch gegen die Enttäuschung waren sie machtlos. Dany stieg erschöpft ein und war froh, vor den Blicken der Qartheen Zuflucht zu finden. »Macht Platz«, rief Jhogo der Menge aus dem Sattel zu und ließ die Peitsche knallen. »Macht den Weg frei für die Mutter der Drachen.«
Xaro Xhoan Daxos lehnte sich in die kühlen Satinkissen zurück und goss mit ruhiger Hand rubinroten Wein in zwei Kelche aus Gold und Jade, wobei er trotz des schwankenden Palankins keinen Tropfen verschüttete. »Ich sehe tiefe Traurigkeit auf Eurem Gesicht, mein Licht der Liebe.« Er reichte ihr einen Kelch. »Könnte es die Trauer um einen verlorenen Traum sein?«
»Um einen aufgeschobenen Traum.« Danys enges Silberhalsband scheuerte an ihrer Kehle. Sie öffnete es und warf es zur Seite. Das Halsband war mit einem verzauberten Amethysten besetzt, von dem Xaro behauptete, er würde sie gegen alle Arten von Giften schützen. Die Reingeborenen waren berüchtigt dafür, jenen, die sie für gefährlich hielten, vergifteten Wein anzubieten, doch Dany hatte nicht einmal einen Becher Wasser bekommen. Sie erkennen mich nicht als Königin an, dachte sie verbittert. Für sie war ich nur eine nachmittägliche Unterhaltung, ein Pferdemädchen mit einem Aufsehen erregenden Haustier.
Rhaegal zischte und grub die schwarzen Krallen tief in ihre nackte Schulter, als Dany die Hand nach dem Wein ausstreckte. Sie zuckte zusammen und schob ihn auf die andere Schulter, wo er sich in ihr Gewand statt in ihre Haut krallen konnte. Sie war nach Art der Qartheen gekleidet. Xaro hatte sie gewarnt, dass die Gekrönten eine Dothraki niemals anhören würden, deshalb hatte sie ein wallendes grünes Seidenkleid angelegt, welches eine Brust freiließ, silberne Sandalen angezogen und einen Gürtel aus schwarzen und weißen Perlen um ihre Taille geschlungen. So, wie sie mir geholfen haben, hätte ich auch nackt vor sie treten können. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Sie nahm einen tiefen Schluck.
Die Reingeborenen waren Abkömmlinge der alten Könige und Königinnen von Qarth; sie befehligten die Bürgergarde und die Flotte der reich verzierten Galeeren, welche die Wasserstraßen zwischen den Meeren beherrschten. Daenerys Targaryen hatte diese Flotte gewollt, oder zumindest einen Teil davon, und außerdem einige Soldaten aus Qarth. Sie hatte das traditionelle Opfer im Tempel der Erinnerung dargebracht, hatte dem Hüter der Langen Liste das traditionelle Bestechungsgeld überreicht, hatte dem Öffner der Tür die traditionelle Persimone geschickt und hatte dafür am Ende die traditionellen blauen Seidenpantoffeln erhalten, die sie in die Halle der Tausend Throne riefen.
Die Reingeborenen hörten sich ihre Bitten an und saßen derweil in den großen Holzstühlen ihrer Vorfahren auf den riesigen Marmorstufen, die vom Boden bis zur mit Bildern von Qarths Ruhm vergangener Zeiten bemalten Kuppeldecke reichten. Die Stühle waren riesig und mit fantastischen Schnitzereien verziert, glänzten von Blattgold und waren mit Bernstein, Onyx, Lapislazuli und Jade besetzt. Ein jeder unterschied sich von den anderen, und einer war prächtiger als der vorherige. Dennoch wirkten die Männer darin so lustlos und der Welt müde, dass sie fast den Eindruck erweckten, als schliefen sie.
Sie haben zugehört, aber sie haben nichts aufgenommen, oder sie scheren sich nicht um mich, dachte sie. Sie sind wirklich Milchmenschen. Eigentlich wollten sie mir gar nicht helfen. Sie sind nur aus reiner Neugier gekommen. Weil sie sich langweilten und weil der Drache auf meiner Schulter sie mehr interessierte als ich.
»Sagt mir die Worte der Reingeborenen«, sagte Xaro Xhoan Daxos wie aufs Stichwort. »Sagt mir, was sie sprachen, um die Königin meines Herzens so traurig zu stimmen.«
»Sie haben Nein gesagt.« Der Wein schmeckte nach Granatäpfeln und heißen Sommertagen. »Sie haben es voller Höflichkeit gesagt, aber trotz der vielen lieblichen Worte war es noch immer ein Nein.«
»Habt Ihr ihnen geschmeichelt?«
»Auf schamlose Weise.«
»Habt Ihr geweint?«
»Das Blut des Drachen weint nicht«, antwortete sie gereizt.
Xaro seufzte. »Ihr hättet weinen sollen.« Den Qartheen kamen die Tränen häufig und rasch; man betrachtete dies als Zeichen von Zivilisation. »Die Männer, die wir gekauft haben, was haben sie gesagt?«
»Mathos nichts, Wendello hat meine Rede gelobt. Der Auserlesene hat sich mir zusammen mit den anderen verweigert, hat jedoch anschließend geweint.«
»Ach, dass die Qartheen so treulos sein können.« Xaro selbst gehörte nicht zu den Reingeborenen, doch er hatte ihr erklärt, wem sie Bestechungsgeld zukommen lassen sollte, und in welcher Höhe. »Weint, weint, über die Untreue der Menschen.«
Dany hätte lieber um ihr Gold geweint. Mit den Geschenken für Mathos Mallarawan, Wendello Qar Deeth und Egon Emeros den Auserlesenen hätte sie ein Schiff kaufen oder eine große Zahl Söldner anheuern können. »Sollte ich nicht Ser Jorah schicken und die Geschenke zurückfordern?«, fragte sie.
»Ich fürchte, dann käme ein Betrübter Mann des Nachts in meinen Palast und würde Euch im Schlaf töten«, sagte Xaro. Die Betrübten Männer waren eine uralte, heilige Gilde von Assassinen, die ihren Namen trugen, weil sie stets flüsterten: »Es betrübt mich sehr«, während sie ihre Opfer töteten. Höflichkeit ging den Qartheen über alles. »Ein weises Sprichwort sagt: Es ist einfacher, die Steinkuh von Faros zu melken, als Gold aus einem Reingeborenen zu quetschen.«
Dany wusste nicht, wo Faros sich befand, Qarth dagegen schien voller Steinkühe zu sein. Die Handelsherren, die durch den Handel zwischen den Meeren unglaublich reich geworden waren, wurden in drei einander eifersüchtig beäugende Fraktionen eingeteilt: die Alte Gilde der Gewürzhändler, die Turmalinbruderschaft und die Dreizehn, zu denen auch Xaro gehörte. Jede wetteiferte mit den anderen um die Vorherrschaft, und alle drei lagen mit den Reingeborenen in nie enden wollendem Streit. Dazu kamen noch die Hexenmeister mit ihren blauen Lippen und entsetzlichen Kräften; die Hexenmeister zeigten sich zwar selten, wurden jedoch umso mehr gefürchtet.
Ohne Xaro wäre sie verloren gewesen. Das Gold, das sie für den Eintritt in die Halle der Tausend Throne verschwendet hatte, hatte sie größtenteils der Großzügigkeit und dem raschen Verstand des Handelsherrn zu verdanken. Während sich das Gerücht der lebenden Drachen im Osten verbreitete, kamen immer mehr Sucher, um zu erfahren, ob die Berichte der Wahrheit entsprachen – und Xaro Xhoan Daxos sorgte dafür, dass die Mächtigen und die Geringen gleichermaßen der Mutter der Drachen Geschenke entboten.
Das Rinnsal, das er ins Fließen gebracht hatte, schwoll bald zum Strom an. Handelskapitäne brachten ihr Spitze aus Myr, Truhen voller Safran aus Yi Ti, Bernstein und Drachenglas aus Asshai. Kaufleute schenkten ihr Beutel mit Gold, Silberschmiede Ringe und Ketten. Flötenspieler spielten für sie auf, Akrobaten vollführten Kunststücke, Jongleure jonglierten, während Färber sie in Farben hüllten, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Ein Paar aus Jogos Nhai überbrachte ihr eines ihrer wilden, schwarzweiß gestreiften Pferde. Eine Witwe schenkte ihr den getrockneten Leib ihres verstorbenen Mannes, der mit einer Kruste aus Silberblättern überzogen war; solchen sterblichen Überresten wurde große Macht nachgesagt, vor allem wenn es sich bei dem Hingeschiedenen um einen Zauberer handelte, wie in diesem Fall. Und die Turmalinbruderschaft drängte ihr eine Krone auf, die wie ein dreiköpfiger Drache geformt war; der Körper war golden, die Flügel silbern und die Köpfe aus Jade, Elfenbein und Onyx geschnitzt.