Gendry war in die Schmiede geschickt worden; Arya sah ihn nur selten. Was diejenigen betraf, mit denen sie ihren Dienst tun musste, so wollte sie ihre Namen gar nicht erst wissen. Das schmerzte dann nur noch ärger, wenn sie starben. Die meisten waren älter als sie und ließen sie in Ruhe.
Harrenhal war riesig, allerdings befand sich ein großer Teil der Burg in sehr schlechtem Zustand. Lady Whent hatte die Burg als Vasallin des Hauses Tully gehalten, doch sie benutzte nur die unteren Drittel von zweien der fünf Türme, und der Rest verfiel. Jetzt war sie geflohen, und der kleine Haushalt, den sie zurückgelassen hatte, schaffte es nicht, alle Ritter, Lords und hochgeborenen Gefangenen zu bedienen, die Lord Tywin hergebracht hatte, und so mussten sich die Lennisters neben dem Brandschatzen und der Vorratssuche auch um neues Personal kümmern. Gerüchten zufolge plante Lord Tywin, den alten Glanz von Harrenhal wiederherzustellen und es zu seinem neuen Sitz zu machen, wenn der Krieg vorbei war.
Wies ließ Arya Botengänge erledigen, Wasser und Essen holen, und manchmal musste sie in der Halle der Kaserne über der Waffenkammer bedienen, wo die Soldaten ihre Mahlzeiten einnahmen. Der größte Teil ihrer Arbeit bestand hingegen aus Putzen. Im untersten Stockwerk des Klageturms befanden sich Lagerräume und Getreidespeicher, in den beiden Stockwerken darüber hauste ein Teil der Soldaten, doch die Geschosse darüber waren seit achtzig Jahren nicht mehr benutzt worden. Jetzt hatte Lord Tywin befohlen, sie wieder bewohnbar zu machen. Fußböden mussten geschrubbt, Dreck von den Fenstern gewaschen, zerbrochene Stühle und verfaulte Betten hinausgeschleppt werden. Im obersten Stock hatten sich die riesigen Fledermäuse niedergelassen, die sich auf dem Wappen des Hauses Whent fanden, und in den Kellern lebten Ratten … und Geister, sagten manche, die Geister von Harren dem Schwarzen und seinen Söhnen.
Arya hielt das für dummes Geschwätz. Harren und seine Söhne waren im Königsbrandturm gestorben, deshalb trug der schließlich diesen Namen, warum sollten sie also den Hof überqueren, um hier zu spuken? Der Klageturm klagte nur, wenn der Wind von Norden her wehte, und dieses Geräusch entstand dadurch, dass die Luft durch die Risse blies, die sich durch die Hitze im Stein gebildet hatten. Falls es tatsächlich Gespenster in Harrenhal gab, so war sie noch nie von ihnen belästigt worden. Die Lebenden fürchtete sie wesentlich mehr, Wies und Ser Gregor Clegane und Lord Tywin Lennister selbst, der Gemächer im Königsbrandturm bezogen hatte, dem Größten und Mächtigsten der fünf Türme, obwohl er sich unter dem Gewicht des schlackigen Steins geneigt hatte und aussah wie eine riesige, halb geschmolzene Kerze.
Sie fragte sich, was Lord Tywin wohl tun würde, wenn sie einfach zu ihm marschierte und gestand, dass sie Arya Stark war; allerdings käme sie niemals nahe genug an ihn heran, um mit ihm zu sprechen, und glauben würde er ihr sowieso nicht. Zudem würde Wies sie hinterher grün und blau prügeln.
Auf seine eigene angeberische Art war Wies beinahe so Furcht einflößend wie Ser Gregor. Der Berg erschlug Menschen wie Fliegen, die meiste Zeit über schien er die Fliegen jedoch überhaupt nicht zu bemerken. Wies dagegen wusste immer, dass man da war und was man tat, und manchmal sogar, was man dachte. Bei der kleinsten Frechheit schlug er zu, und er hatte einen Hund, der beinahe ebenso gemein war wie er selbst, eine hässliche gescheckte Hündin, die schlimmer stank als alle Hunde, die Arya je gesehen hatte. Einmal hatte er den Köter auf einen Latrinenjungen gehetzt, der ihn verärgert hatte. Während Wies lachte, riss das Tier dem Jungen ein großes Stück Fleisch aus der Wade.
Er brauchte nur drei Tage, bis er einen Ehrenplatz in ihren nächtlichen Gebeten gefunden hatte. »Wies«, flüsterte sie. »Dunsen, Chiswyck, Polliver, Raff der Liebling. Der Kitzler und der Bluthund. Ser Gregor, Ser Amory, Ser Ilyn, Ser Meryn, König Joffrey, Königin Cersei.« Wenn sie auch nur einen von ihnen vergaß, wie sollte sie ihn dann wiederfinden, um ihn zu töten?
Unterwegs auf der Straße hatte sich Arya wie ein Schaf gefühlt, Harrenhal verwandelte sie in eine Maus. Sie war in ihrem kratzigen Wollkittel grau wie eine Maus, und wie eine Maus verkroch sie sich in den Nischen und Spalten und dunklen Löchern der Burg und huschte aus dem Weg, wenn sie den Mächtigen begegnete.
Manchmal dachte sie, alle in diesen dicken Mauern seien Mäuse, auch die Ritter und die großen Lords. Angesichts der Größe der Burg wirkte selbst Gregor Clegane klein. Harrenhal besaß eine drei Mal größere Grundfläche als Winterfell, und die Gebäude waren so riesig, dass man sie kaum mit ihrem Zuhause vergleichen konnte. In den Stallungen standen tausend Pferde, der Götterhain umfasste zwanzig Morgen, die Küchen waren so groß wie Winterfells Große Halle, und die Große Halle hier, die so hochtrabend Halle der Hundert Kamine hieß, obwohl es nur dreißig und ein paar mehr waren (Arya hatte sie zwei Mal gezählt und war beim ersten Mal auf dreiunddreißig, beim zweiten auf fünfunddreißig gekommen), war so riesig, dass Lord Tywin sein ganzes Heer zum Festmahl hätte einladen können, was er allerdings niemals tat. Mauern, Türen, Hallen, Stufen, einfach alles war gigantisch, was Arya an die Geschichten der Alten Nan über die Riesen jenseits der Mauer erinnerte.
Da die Lords und Ladys die kleinen grauen Mäuse unter ihren Füßen nicht bemerkten, hörte Arya viele Geheimnisse mit, wenn sie die Ohren aufsperrte, während sie ihrer Arbeit nachging. Die hübsche Pia aus der Vorratskammer war eine richtige Schlampe, die offensichtlich das Ziel hatte, sich durch die Betten sämtlicher Ritter der Burg zu schlafen. Die Frau des Kerkermeisters ging mit einem Kinde schwanger, dessen richtiger Vater jedoch entweder Ser Alyn Starkspeer oder ein Sänger namens Weißlächelnder Wat war. Lord Leffert spottete bei Tisch immer über die Gespenster, ließ jedoch nachts eine Kerze neben seinem Bett brennen. Ser Dunavers Knappe Jogel konnte im Schlaf sein Wasser nicht halten. Die Köche verabscheuten Ser Harys Swyft und spuckten immer in sein Essen. Einmal hatte sie Maester Tothmures Dienstmädchen belauscht, das ihrem Bruder von einem Brief erzählte, in dem es hieß, Joffrey sei ein Bastard, und er sei gar nicht der rechtmäßige König. »Lord Tywin hat ihm befohlen, den Brief zu verbrennen und solchen Unflat nie wieder auszusprechen«, flüsterte das Mädchen.
König Roberts Brüder Stannis und Renly waren nun ebenfalls in den Krieg gezogen, hörte sie. »Und beide sind jetzt Könige«, sagte Wies. »Im Reich gibt es mehr Könige als Ratten in dieser Burg.« Sogar Anhänger der Lennisters zweifelten, ob Joffrey sich lange auf dem Eisernen Thron würde halten können. »Der Junge hatte keine Armee außer den Goldröcken, und er wird von einem Eunuchen, einem Zwerg und einer Frau beherrscht«, hörte sie einen der geringeren Lords nach ein paar Bechern Wein murmeln. »Wie werden die sich schlagen, wenn es zur Schlacht kommt?« Ständig wurde über Beric Dondarrion geredet. Einmal sagte ein dicker Bogenschütze, er sei vom Blutigen Mummenschanz ermordet worden, doch die anderen lachten nur. »Lorch hat den Mann bei Toswasser getötet, und der Reitende Berg hat ihn schon zwei Mal erschlagen. Ich wette einen Silberhirschen, dass er auch diesmal nicht tot bleiben wird.«
Arya hatte bis vor zwei Wochen keine Ahnung gehabt, was der Blutige Mummenschanz war, bis die eigentümlichste Gruppe von Männern, die sie je gesehen hatte, in Harrenhal eintraf. Unter dem Banner einer schwarzen Ziege mit blutroten Hörnern ritten kupferfarbene Männer mit Glöckchen in den Zöpfen herein; Lanzenträger saßen auf schwarz-weiß gestreiften Pferden; Bogenschützen hatten gepuderte Wangen; dicke, haarige Kerle trugen verbeulte Schilde; braunhäutige Männer trugen Umhänge aus Federn; ein schmächtiger Narr war in grüne und rosafarbene Karos gekleidet; Schwertkämpfer hatten die fantastisch gegabelten Bärte grün und purpurn und silbern gefärbt; Speerträger zeigten auf den Wangen bunte Narben. Außerdem gehörten dazu noch ein schlanker Bursche in der Robe eines Septons, ein väterlicher Mann im Grau eines Maesters und ein kränklicher Kerl, an dessen Lederumhang lange blonde Haarsträhnen befestigt waren.