»Es wird gleich verdammt heiß hier«, sagte er. »Wir können nicht bleiben.«
»Glaubst du, in der Wüste wird es kühler?« fragte Torian böse. »Natürlich nicht. Aber wir finden einen Unterschlupf, kaum eine Stunde von hier. Eine Ruinenstadt. Rador. Wir haben auf dem Weg hierher dort haltgemacht.«
»Rador...« Torian wiederholte das Wort ein paarmal, aber der Klang verlor nichts von seiner Fremdartigkeit. Er hatte das Gefühl, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Aber er wußte nicht wo.
Schweigend signalisierte er seine Zustimmung, trieb sein Pferd die Uferböschung hinauf, die an dieser Stelle weitaus steiler und karger war als auf der gegenüberliegenden Seite, und lenkte es zwischen das von Garth und Packtier. Die Furt wurde auch auf dieser Seite von zwei mannshohen, polierten Pfosten markiert. Aber hier fehlte der grausige Schmuck, der die jenseitigen Pfähle gekrönt hatte. Trotzdem konnte Torian ein Gefühl der Bedrohung nicht vollends abschütteln. Jedermann wußte, daß die große Staubwüste gefährlich war, und längst nicht alle, die sich an ihre Durchquerung gemacht hatten, waren zurückgekommen. Vielleicht, überlegte er, waren es nicht allein der Sand und die Hitze, die sie getötet hatten. Aber vielleicht hatten sich auch nur ein paar Wegelagerer, die in den beiden Spähern des Tremonischen Heeres leichte Beute gefunden hatten, einen makabren Scherz erlaubt.
Er zuckte mit den Achseln, löste den Weinschlauch von seinem Sattelgurt und nahm einen großen Schluck. Der Wein war warm und schmeckte nicht, und er verspürte hinterher beinahe mehr Durst als zuvor.
»Woher kommst du?« fragte Garth plötzlich. Torian antwortete nicht sofort, und der Dieb fuhr fort: »Bisher haben wir nur über mich geredet. Außer deinem Namen weiß ich nichts von dir.«
»Ich auch nicht«, knurrte Torian.
Garth blinzelte, und Torian fuhr in halb ernstem, halb scherzhaftem Ton fort: »Es gibt nicht viel über mich zu erzählen. Ich bin Söldner, seit ich alt genug war, auf einem Pferd zu sitzen und ein Messer zu halten.«
»Und ein verdammt guter dazu«, Garth nickte.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe dich kämpfen sehen«, erklärte Garth. »Und ich habe mich gefragt, was ein Mann wie du in einem Söldnerheer sucht.«
Torian schnaubte ärgerlich. »Vielleicht seine Ruhe vor dummen Fragen«, sagte er. »Es gibt viele Männer, die gut mit dem Schwert umgehen können, Garth. Und die Angst ist ein hilfreicher Verbündeter. Sie gibt dir Kraft.«
Garth lachte leise, schüttelte den Kopf und schwieg einen Moment, aber nur, um gleich darauf fortzufahren: »Und wo lebst du ?«
»Mal hier, mal da«, antwortete Torian ausweichend. Es war nicht die ganze Wahrheit, aber er wollte nicht darüber sprechen; nicht über sich und schon gar nicht über seine Vergangenheit. Es hatte nichts damit zu tun, daß er Garth etwa mißtrauen würde – im Gegenteil. Obwohl er den breitschultrigen Dieb erst seit wenigen Stunden kannte, verstärkte sich seine Sympathie, die er ihm entgegenbrachte, immer mehr, und er hatte das Gefühl, ihn seit Jahren zu kennen, nicht seit Tagesfrist.
Aber er sprach nie über seine Vergangenheit, und er bemühte sich sogar, sie selbst zu vergessen. Er war Torian, der Krieger, und mehr nicht. Der Mann, der er einmal gewesen, war in irgendeiner der zahllosen Schlachten und Scharmützel, an denen er teilgenommen hatte, gestorben. Vielleicht hatte er niemals wirklich gelebt. »Gut«, gab sich Garth nach einer Weile zufrieden. »Wenn du nicht darüber reden willst, laß es. Jeder hat seine kleinen düsteren Geheimnisse, nicht?« fügte er lachend hinzu.
Torian starrte ihn finster an, und Garth wurde plötzlich wieder ernst. »Wohin gehst du, wenn wir die Wüste hinter uns haben?«
»Vielleicht weiter nach Norden«, murmelte Torian. »Dort ist es kühler. Außerdem fürchte ich, daß dieser verdammte Krieg noch lange nicht vorbei ist. Aber erst einmal müssen wir die Wüste durchqueren, nicht?«
Garth winkte ab. »Das ist kein Problem. Wir warten in Rador die Zeit der größten Hitze ab und reiten in die Nacht hinein. Wir haben Lebensmittel und Wasser zurückgelassen auf dem Weg hierher. In zwei Tagen haben wir die Wüste hinter uns.«
Torian teilte Garth’ Optimismus nicht zur Gänze. Aber er widersprach auch nicht, sondern ließ sich ein wenig im Sattel nach vorne sinken, stützte sein Körpergewicht auf dem Hals des Tieres ab und ritt mit halbgeschlossenen Augen neben Garth her.
Aus der Ferne hatte die Stadt nicht wie eine solche ausgesehen, nicht einmal wie eine Ruine, sondern eher wie eine zufällig entstandene Verwehung, vielleicht eine Ansammlung von Felsen, die ein launischer Gott hier mitten in die Wüste gesetzt hatte und die im Laufe der Jahrhunderte unter Staub und Sand verschwunden war. Erst als sie näher kamen, wurden aus Felsen zerbröckelte Mauern, aus Sandverwehungen halb eingestürzte, geborstene Häuser und abgebrochene Fundamente von Türmen, aus Wellentälern zwischen Sanddünen gewundene Straßen und aus Erdspalten Kellergewölbe, deren Decken unter dem Druck der Jahrhunderte eingestürzt waren. Sie ritten langsamer, je mehr sie sich der Ruinenstadt näherten. Der Wind fing sich an den rundgeschliffenen Graten und Winkeln, heulte durch die verlassenen Straßen und sang ein bizarres Lied von Einsamkeit und Tod. Torian schauderte. Er fühlte sich unwohl, mit jedem Moment mehr, und das Gefühl hatte nichts mit der Hitze oder seinen Verletzungen zu tun. Etwas Unsichtbares, Düsteres schien zwischen den Mauern der Stadt zu hängen, eine greifbare Atmosphäre des Bösen, Ablehnenden. Er konnte sie spüren. Er konnte sie sehen in den schwarzen Schlagschatten der Häuser, und er konnte hören, wie sich das Lied des Windes änderte und ihnen eine wortlose Warnung entgegenschrie. Etwas war zwischen ihnen und der Stadt, eine unsichtbare, unhörbare, aber fühlbare Mauer aus Feindseligkeit und erstarrter Zeit. Dies war kein Ort für Menschen. Garth zugehe sein Tier im Schatten der ersten Mauer, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und sah sich unentschlossen um. Sein Gesicht war rot und schien zu brennen. Er mußte Fieber haben. Obwohl er nicht den geringsten Klagelaut von sich gegeben hatte, wußte Torin, daß seine Brandwunden furchtbar schmerzen mußten.
»Nun?« fragte er. »Wo ist dein Lebensmitteldepot?«
Garth knurrte etwas Unverständliches und sah sich weiter um. Seine Finger spielten nervös am Sattelgurt. »Wir haben genug zu essen mit«, murmelte er nach einer Weile.
»Sicher.« Torian nickte und zog eine Grimasse. Geht weg, flüsterte der Wind. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht vollends. Die Furcht blieb, stumm und irgendwo dicht unter der Oberfläche seines bewußten Denkens verborgen, aber bereit, ihn beim geringsten Zeichen von Schwäche erneut anzuspringen. Geht weg. Kommt nicht hierher! Diese Stadt ist nichts für euch! Vielleicht sollten sie wirklich weiterreiten. Die Wüste war mörderisch und groß, aber sie hatten kräftige Pferde und genügend Proviant, um sie schlimmstenfalls auch ohne Rast durchqueren zu können.
»Warum«, fragte er unsicher und in einem Ton, der Garth nicht erkennen ließ, ob seine Worte ernst gemeint oder ein Scherz waren, »reiten wir dann nicht weiter? Die Pferde sind kräftig genug, um bis zum Abend durchzuhalten. Wenn wir hier nichts finden, verlieren wir nur Zeit.«
»Das Lager ist hier«, behauptete Garth gereizt. »Wir waren vor kaum drei Tagen dort. Außerdem gibt es ein zweites Depot, einen halben Tagesritt von hier.«
Torian nickte. »Ich frage mich bloß, ob du die anderen Lager findest – wenn du hier schon Schwierigkeiten hast.«
Garth starrte ihn zornig an. »Ich finde sie schon«, schnappte er. »Aber als wir das letzte Mal hier waren, sah alles ganz anders aus. Dieser verdammte Sand.«
Er sprach nicht weiter, sondern blickte sich erneut um. In seinen Augen lag eine Mischung aus Verzweiflung und Zorn, und seine Hände zerrten so fest an den ledernen Sattelriemen, als wolle er sie zerreißen. Torian schluckte die bissige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Garth war am Ende seiner Kräfte, sowohl physisch als auch psychisch. Es waren nur wenige Tage, daß er hiergewesen war, aber hier, inmitten der Wüste, konnten schon wenige Stunden ausreichen, das Aussehen der Landschaft vollkommen zu verändern. Der staubfeine, hellgelbe Sand tanzte ununterbrochen im Spiel des Windes, und jede auch nur etwas heftigere Bö mußte das Gesicht der Stadt neu formen. Die Staubwüste war berüchtigt für ihren feinen Sand. Manchmal war er so dünnflüssig wie Wasser. Es konnte gut sein, daß dort, wo vor zwei Tagen noch Durchgänge und Tore gewesen waren, sich jetzt eine undurchdringliche Sandmauer aufgetürmt hatte, oder umgekehrt.