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»Dieser Turm dort hinten.« Garth wies mit einer Kopfbewegung auf einen sechseckigen, aus graubraunem Sandstein errichteten Turm, dessen abgebrochene Spitze sieben oder acht Manneslängen über den Wüstensand hinausragte. Wenn seine Größe in dem allgemein gebräuchlichen Verhältnis zum Durchmesser gestanden hatte, mußte es einst ein gewaltiges Bauwerk gewesen sein, dachte Torian. Längliche, nach unten schmaler werdende Schießscharten waren an seinen Wänden zu sehen, da und dort ausgebrochen, so daß schwarze, gezackte Löcher wie Wunden in dem grauen Bruchstein gähnten, und an einigen von ihnen waren noch die verrosteten Überreste ehemaliger Gitter zu erkennen. Die Festung mußte sehr alt sein. »Ich erinnere mich jetzt«, murmelte Garth. »Wir haben in seinem Inneren gelagert. Der Kommandant hatte Wachen oben auf der Plattform aufgestellt.«

»Dann wollen wir hoffen, daß sie nicht noch immer dort stehen«, knurrte Torian. Er ließ sein Pferd weitertraben, lenkte das Tier behutsam um den Mauervorsprung herum und näherte sich der Turmruine.

Garth folgte ihm, wenn auch in großem Abstand und so langsam, daß Torian sein Tier noch mehr zurückhalten mußte, bis der Dieb aufgeholt hatte. Garth’ Kräfte ließen jetzt rapide nach, und auch Torian spürte eine neue Welle von Müdigkeit durch seine Glieder strömen. Die Stadt verhieß Schatten und vielleicht einige Stunden der Ruhe, aber anders als sonst mobilisierte der Anblick nicht noch einmal die letzten Kräfte, sondern schien sie im Gegenteil noch zu lahmen. Selbst die Schritte der Pferde wurden mühsamer.

Es war nicht leicht, die halb zugewehten Straßen und Gassen Radors zu durchqueren; die Pferde sanken mehr als einmal bis über die Fesseln in staubfeinen Sand ein oder stolperten über Hindernisse, die unter der trügerischen braungelben Decke lauerten, und scheinbar massiver Fels erwies sich nur zu oft als papierdunne Schicht – ein Dach, eine Zwischendecke oder Plattform –, die wahrend eines Jahrtausends vom Wind geduldig glattgeschmirgelt worden war, die bei der geringsten Belastung zusammenbrach und sich zu einer klaffenden, tödlichen Höhle öffnete. Immer wieder mußten sie Umwege machen oder auf ihrer eigenen Spur zurückreiten, um einen anderen Weg durch das Labyrinth aus Sand und zerfallenen Wänden zu suchen.

Torian hatte Angst.

Er gab es nicht zu, nicht einmal sich selbst gegenüber, aber er wußte sehr wohl, daß das unruhige Gefühl in seinem Inneren nichts anderes war als Angst, eine Furcht, die auf unheimliche Weise in den Wänden und Türmen Radors zu lasten schien und jetzt auf unsichtbaren Spinnenfüßen in seine Seele kroch.

Er verstand nicht, warum das so war. Rador war nicht die erste Ruinenstadt, in die er kam; beileibe nicht. Die Zahl der bewohnten und verlassenen Städte in diesem Teil des Caracons hielt sich fast die Waage. Tremon, Scrooth und selbst ein Teil der Freien Städte waren auf den Ruinen eines anderen, längst vergangenen Reiches errichtet worden, eines Reiches, über dessen Bewohner und ihre Sitten so gut wie nichts mehr bekannt war. Es waren Menschen gewesen, und sie mußten furchtbare Kriege gegeneinander geführt haben, vielleicht auch nur einen einzigen, einen über Jahrhunderte andauernden Krieg, in dem sie schließlich ausgeblutet waren, bis ihre Kraft nicht einmal mehr reichte, ihr Volk am Leben zu erhalten. Doch damit erschöpfte sich das Wissen über die alte Rasse bereits. Ihre Geschichte hatte geendet, tausend Jahre, bevor die der heutigen Bewohner Caracons begonnen hatte. Aber ihre Spuren waren noch überall. Und trotzdem war diese Stadt irgendwie anders. Es war nicht ihre Architektur – Tonan hatte die auf bizarre Weise ineinandergewundenen Spitzbögen, die asymmetrischen Fenster und die eine Spur zu niedrigen Türen schon hundertmal gesehen. Rador war eine Festung der Alten, eine von zahllosen Ruinen, wie sie überall in den Wüsten und auf den großen Staubebenen zu finden waren. Und doch...

Hinter den Eingängen, deren Türen schon vor tausend oder mehr Jahren zu Staub zerfallen waren, hinter glaslosen Fenstern, die wie blind gewordene Augen auf die beiden einsamen Reiter herabstarrten, und in Winkeln, in denen sich der Staub von Jahrtausenden angesammelt hatte, schien etwas Unsichtbares und Böses zu lauern. Schatten, die keine Schatten waren. Das Rascheln von Sand, das sich anhörte wie behutsame Schritte, das Klirren von verrostetem Eisen, das klang wie das Geräusch von Waffen, die vorsichtig aus ihren Scheiden gezogen wurden, das Wispern des Windes, der noch immer sein stummes Geht weg! Geht weg! Geht weg! flüsterte. »Nervös?« fragte Garth.

Torian sah auf. Garth hatte den Schwächeanfall überwunden; vielleicht tat er auch nur so. In den Augen des Diebes war ein spöttisches Glitzern zu erkennen, aber es war nicht echt; auch Garth spürte den Atem des Fremden und Bösen, der über der Stadt lag, und er war, tief in seinem Inneren, genauso nervös wie Torian. »Wie kommst du darauf?« fragte Torian, eine Spur zu grob, um Garth über seine wirklichen Gefühle hinwegtäuschen zu können. »Es ist nur ein Haufen alter Steine, oder?«

Garth lachte leise, richtete sich ein wenig im Sattel auf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zur Sonne empor. »Das ist Radors Fluch«, sagte er ernsthaft. »Die Stadt ist nicht für die Lebenden.« So, wie er die Worte aussprach, hörten sie sich an, als wäre er wirklich davon überzeugt. »Man behauptet, daß nach Dunkelwerden die Geister der Alten in ihren Straßen umgehen und alle töten, die ihren Fuß in die Stadt setzen.«

»Ach?« äußerte Torian. »Und du...«

»Ich habe nicht vor, so lange hierzubleiben«, fiel ihm Garth ins Wort. »Wir warten die Mittagshitze ab, essen und trinken und reiten weiter, wenn die Pferde sich ein wenig ausgeruht haben. Tagsüber ist es ungefährlich.«

»Du verstehst dich auf Geistergeschichten, wie?« fragte Torian. Er versuchte zu lachen, um seine Nervosität zu überspielen, aber es mißlang. Geht weg! flüsterte der Wind.

Garth schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Aber der Magier, der uns begleitet hat. Ich wiederhole nur seine Worte. Wir haben hier übernachtet, aber erst nachdem er einen Bannspruch um diesen Turm gelegt hat. Dummerweise«, fügte er hinzu, »haben wir keinen Magier dabei. Deshalb wäre es besser, wir würden verschwinden, ehe die Nacht hereinbricht.«

Torian sah den hünenhaften Dieb nachdenklich an. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir erst gar nicht hierblieben«, murmelte er. »Diese Stadt gefällt mir nicht, Garth.«

Garth nickte. »Mir auch nicht. Aber in einer Stunde wird es so heiß, daß die Pferde unter unserem Gewicht zusammenbrechen. Wir müssen hierbleiben, ob wir wollen oder nicht – wenigstens für eine Weile.« Er lächelte aufmunternd. »Nur keine Angst, Torian. Ich bin ja bei dir.« Aber seine Augen blieben ernst, und als Torian ihn scharf ansah, bemerkte er, daß seine Hände zitterten. Torian nickte. Garth’ Worte wären im Grunde überflüssig gewesen. Er selbst spürte jeden einzelnen Schritt, den das Pferd auf dem Weg hierher gemacht hatte, und seine Augen brannten so heftig, daß er kaum noch richtig sehen konnte. Der Wind hechelte weiter seine stumme Drohung, und Rador saugte die Kraft aus ihren Leibern. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätten sie nicht weiter gekonnt. Sein Gedanke, den Tag durchzureiten, war nicht mehr als ein Wunsch gewesen, ein unerfüllbarer Wunsch. In längstens einer Stunde war es draußen in der Wüste so heiß, daß ihr Blut zu kochen anfangen würde.