Langsam ritten sie weiter. Die Hitze nahm ein wenig ab, als sie tiefer in die Stadt eindrangen und der unmittelbaren Sonneneinstrahlung entgingen, aber dafür schlug ihnen eine Welle schwüler, stickig heißer Luft entgegen, die beinahe noch schlimmer war. Ihr Packpferd stolperte, versuchte mit einem ungeschickten Schritt sein Gleichgewicht wiederzufinden und brach mit einem schrillen Aufwiehern in den Vorderläufen zusammen, als der Sand unter seinen Hufen nachgab.
Torian sprang mit einem Fluch aus dem Sattel, griff nach den Zügeln und versuchte das bockende Tier zu beruhigen. Es gelang ihm, aber das Pferd blieb weiter unruhig und zog verängstigt den Kopf zurück, als er seine Nüstern streicheln wollte. An seinem rechten Vorderlauf war ein halbmeterlanger, blutiger Kratzer.
Torian fluchte erneut und wesentlich ungehemmter als zuvor, kniete im warmen Sand nieder und tastete behutsam mit den Fingerspitzen über das Bein. Das Tier ließ es geschehen, zuckte aber schmerzhaft zusammen, als er die Wunde berührte.
»Schlimm?« fragte Garth.
»Schlimm genug«, antwortete Torian. Er stand auf, musterte das Pferd mit einem langen, besorgten Blick und schüttelte in einer Mischung aus Zorn und Resignation den Kopf.
»Was heißt das?« hakte Garth ungeduldig nach. »Ist das Bein gebrochen?«
»Nein. Aber es wird die Packtaschen nicht mehr tragen können. Vergiß die Lebensmittel, die es trägt.«
Garth hob zornig die Faust, ließ sie aber dann mit einem lautlosen Achselzucken wieder sinken. Es hatte keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Sie würden die Lebensmittel – und wohl auch einen großen Teil des Wassers — zurücklassen müssen, ob sie wollten oder nicht. Die beiden anderen Pferde würden mit Mühe und Not das Gewicht ihrer Reiter durch die Wüste schleppen können, und vielleicht nicht einmal das.
»Ich hoffe, dein Lager ist wirklich hier«, murmelte Torian. Garth runzelte die Stirn, aber Torian wartete seine Antwort nicht ab, sondern begann schweigend die Sattelgurte zu lösen und die Packtaschen vom Rücken des Pferdes zu heben. Garth sah ihm einen Herzschlag lang wortlos dabei zu, ehe er sich ebenfalls aus dem Sattel schwang und ihm half. Das Tier wieherte erleichtert, als der Druck der vollbeladenen Packtaschen von ihm genommen wurde, tänzelte aber weiter nervös auf der Stelle. Torian musterte es besorgt. Die Wunde war schlimmer, als er im ersten Moment geglaubt hatte. Wahrscheinlich würde sie sich entzünden, ehe der Abend kam, und wahrscheinlich würden sie es töten müssen. Sie verteilten die Packtaschen auf die Rücken ihrer Reittiere, nahmen dem verletzten Pferd auch noch Sattel und Zaumzeug ab und warfen beides achtlos in den Sand.
»Ich glaube, ich ziehe doch nicht mit dir zusammen weiter«, murrte Garth. »Sobald wir die Wüste hinter uns haben, trennen wir uns. Du bringst Unglück.«
Torian verzichtete auf eine Antwort. Sie waren beide zu müde, um noch vernünftig miteinander reden zu können, und es würde nur in Streit enden, wenn er jetzt etwas sagte. Statt dessen beugte er sich noch einmal zu dem verletzten Bein des Pferdes hinab, griff behutsam nach seiner Fessel und begutachtete die Wunde ein drittes Mal.
»Was ist?« fragte Garth. »Versuchst du es jetzt mit Handauflegen?«
Torian winkte unwillig ab. »Das ist ein Schnitt«, stellte er fest. Garth zuckte mit den Achseln. »Und?«
Torian sah zu ihm auf, biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und starrte wieder die Wunde an. Sie blutete nicht mehr, aber der allgegenwärtige gelbe Sand begann sich bereits an ihren Rändern festzusetzen. »Ich frage mich, was sie verursacht haben kann«, sagte er.
Garth antwortete nicht, sondern zog nur ein fragendes Gesicht. Torian stand auf, und begann mit den Händen im Sand zu graben.
Dicht unter der Oberfläche des Sandes lag etwas Schweres, Hartes verborgen. Torian ließ sich vollends auf die Knie sinken, vergrub auch die andere Hand im Staub und zog seinen Fund mit einem entschlosseenn Ruck aus dem Sand.
Es war ein Schwert. Seine Klinge war zerschrammt und dick mit Sand und eingetrocknetem Schmutz verkrustet, aber als er mit dem Daumen über die Schneide fuhr, kam blitzendes Metall zum Vorschein, und er spürte, wie scharf die Waffe war.
»Was hast du da?« fragte Garth neugierig.
Torian hielt ihm wortlos die Klinge entgegen. Garth runzelte die Stirn, griff danach und wischte sie mit einem Zipfel seines Umhanges sauber.
»Die Waffe ist fast neu«, meinte er verwirrt.
Torian nickte. »Sie kann noch nicht lange hier liegen«, bestätigte er. »Eine von euch?«
Garth überlegte einen Moment, schüttelte dann den Kopf und gab ihm das Schwert zurück. »Kaum«, versetzte er. »Ein Krieger verliert seine Waffe nicht. Und schon gar nicht ein solches Prachtschwert. Auf dem schwarzen Markt in Tremon ist das Ding ein Vermögen wert.«
Torian legte das Schwert neben sich in den Sand und begann mit beiden Händen zu graben.
Er brauchte nicht lange zu suchen. Das Schwert hatte nur wenige Zentimeter tief gelegen, vielleicht erst seil wenigen Stunden vom Wind zugedeckt.
Und sein Besitzer lag weniger als einen Schritt von ihm entfernt. Torian war nicht einmal besonders überrascht, als er den Toten fand. Der Mann lag auf dem Rücken, die Beine angewinkelt und die linke Hand wie ein Kopfkissen unter dem Hinterkopf, als hätte er sich nur zu einem kurzen Schlaf ausgestreckt. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.
»Bei allen Göttern!« murmelte Garth ungläubig. »Wer ist das?«
Torian zuckte kaum merklich mit den Achseln. Der Mann war noch nicht lange tot; einen Tag, vielleicht zwei, auf keinen Fall mehr. Seine Augen standen weit offen und waren mit einem dünnen Film staubfeinen gelben Sandes überpudert, und auf seinem Gesicht stand ein erstarrter Ausdruck des Grauens. Er mußte kurz vor seinem Tod einen Schrecken durchlebt haben, der sich jeder Vorstellung entzog. Torian schauderte. Er hatte geglaubt, daß ihn der Anblick eines Toten nicht mehr treffen könnte. Aber das stimmte nicht. Das stimmte ganz und gar nicht.
»Das ist... keiner von eurem Haufen?« fragte er stockend. Garth schüttelte den Kopf. »Nein. Ich... habe den Mann noch nie gesehen. Seine Kleidung. Sieh dir seine Kleidung an.«
Torian riß seinen Blick gewaltsam vom Gesicht des Toten los. Die Kleidung des Mannes war verschmutzt und voll dunkler, an eingetrocknetes Blut erinnernder Flecken. Sein Hosenbein war zerrissen; darunter war ein tiefer, kaum verkrusteter Schnitt zu sehen, der sich vom Oberschenkel bis zum Fuß hinabzog. Aber trotzdem war noch deutlich zu erkennen, daß seine Kleidung sehr teuer gewesen sein mußte.
»Ein Edelmann«, murmelte er. »Vielleicht auch ein reicher Händler, der den Weg durch die Wüste abkürzen wollte.«
Garth sah ihn unsicher an, schwieg aber. Seine Mundwinkel zuckten.
»Wer... mag ihn getötet haben?« fragte er nach einer Weile. Torians Blick glitt wieder zu der durchschnittenen Kehle des Mannes. Die Wunde war sehr tief; eher ein Riß als ein sauberer Schnitt. Keine Wunde, wie sie ein Schwert oder ein Dolch verursachen würden.
»Vielleicht war er dumm genug, hier übernachten zu wollen«, vermutete er leise. »Vielleicht haben ihn deine Geister erwischt, Garth.«
Garth starrte ihn an. Seine Lippen zitterten. »Das ist nicht komisch, Torian«, murmelte er. »Jemand hat diesen Mann ermordet, und es ist noch nicht lange her. Vielleicht ist er noch in der Nähe.«
Torian sah unwillkürlich auf, aber die Stadt war verlassen und still wie zuvor. Trotzdem bildete er sich für einen Moment ein, hastige Schritte und ein schnelles Huschen zu hören.
Aber es war nur der Wind.
Mit einem Ruck stand er auf und blickte zur Turmruine hinüber. Sie waren nicht mehr sehr weit entfernt. »Komm«, forderte er Garth auf. »Wir müssen weiter.«
Garth blickte unsicher auf den Toten hinab. »Wollen wir ihn nicht... begraben?« fragte er.
»Begraben?« Torian schüttelte den Kopf. »Das erledigt der Wind für uns, Garth.«