Er sah sich suchend um und deutete schließlich auf das am nächsten liegende Fenster. »Komm mit.«
Garth folgte ihm mit steinerner Miene. Der breitschultrige Dieb hatte sich jetzt wieder in der Gewalt, aber Torian spürte, daß es nur eines winzigen Anstoßes bedurfte, ihn vollends die Fassung verlieren zu lassen.
Ihn? dachte er. Ihm selbst erging es nicht viel besser. Er hatte sich bisher geweigert, das Geschehen wirklich zu akzeptieren, das war alles. Aber lange würde er das nicht mehr können. Sie hätten niemals hierherkommen dürfen. Vielleicht war dies der Preis, den er für seinen Mord an dem Magier zu zahlen hatte.
Sie erreichten das Fenster. Torian streckte sich, um die schmale Brüstung zu erreichen. Er schaffte es nicht ganz, aber Garth packte ihn ohne viel Federlesens mit nur einer Hand am Gürtel und hob ihn hoch, als wöge er nicht mehr als ein Kind. Torians Finger glitten suchend über den warmen Stein, ertasteten einen Teil des zerfallenen Gitters und klammerten sich fest. Gleichzeitig suchte er mit den Zehen Halt in den Fugen des Mauerwerkes. »Es ist gut«, keuchte er. »Du kannst loslassen.«
Garth gehorchte, trat einen Schritt zurück und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zu ihm hinauf. »Wie sieht es aus?«
Torian krallte sich mit einer Hand und den Zehen fest, während er mit der anderen prüfend am Gitter rüttelte. Der Ansturm der Jahrhunderte hatte es gelockert, und schon bei der ersten Berührung rieselte der Mörtel wie feiner Staub über seine Hände. Es würde kein Problem sein, die rostigen Eisenstäbe vollends zu zerbrechen. Aber das Fenster war zu schmal. Vielleicht würde es ihm – mit viel Kraft und noch mehr Glück – gelingen, sich hindurchzuzwängen. Aber Garth würde darin steckenbleiben wie ein Korken in einem Flaschenhals.
Er seufzte, schüttelte den Kopf und sprang wieder hinunter zu Garth. »Sinnlos.«
»Können wir die Wand nicht durchbrechen? Vielleicht reicht es schon, ein paar Steine...« Garth verstummte, als er Torians Blick begegnete. »Schon gut«, murmelte er niedergeschlagen. »Suchen wir einen anderen Weg. Irgendeinen Ausgang muß dieser verdammte Turm ja haben.«
Torian war sich da gar nicht so sicher. Aber es nutzte weder ihm noch Garth, wenn sie sich die Köpfe heiß redeten, und so schwieg er.
Garth wandte sich um, machte einen Schritt in Richtung Tür und blieb wieder stehen. »Das ist doch sinnlos«, stammelte er. Seine Stimme zitterte stärker. »Wir... wir kommen hier nie mehr raus. Wir...«
Torian trat mit einem raschen Schritt neben ihn und riß ihn an der Schulter herum. »Garth«, forderte er scharf. »Reiß dich zusammen.«
Garth schluckte. In seinen Augen stand plötzlich ein seltsames, warnendes Glitzern.
»Wir müssen vor allem einen klaren Kopf bewahren«, ermahnte ihn Torian beschwörend. »Bitte, Garth – verlier jetzt nicht die Nerven. Wir kommen hier schon raus. Schlimmstenfalls brechen wir einfach die Wand unten vor dem Ausgang auf.«
Garth mußte so gut wie er wissen, daß seine Worte der reine Unsinn waren. Die Wände des Turmes waren mehr als mannsdick. Sie würden verdursten, ehe sie sie auch nur erkennbar angekratzt hatten.
Trotzdem beruhigte sich Garth. »Du hast recht«, gab er zu. »Ich muß... mich zusammenreißen.« Er lächelte nervös. »Das ist nicht der erste Kerker, aus dem...« Er brach ab. Auf seinem Gesicht erschien ein lauernder Ausdruck.
»Was ist?« fragte Torian.
Garth winkte hastig ab, legte den Zeigefinger über die Lippen und sah sich demonstrativ um.
Der Raum war noch immer leer. Torian fiel erst jetzt richtig auf, wie groß er war. Mit Ausnahme des schmalen Stückes, das der Treppenschacht in Anspruch nahm, mußte er sich über die gesamte Grundfläche des Turmes erstrecken. Aber das bedeutete auch, daß unter ihm weitere Räume lagen. Und vielleicht ein Ausgang. Die Vorstellung eines Raumes, der weder Ein- noch Ausgang hatte, erschien ihm ziemlich sinnlos.
»Was hast du?« fragte er noch einmal. »Wie...«
»Paß auf! Hinter dir!«
Torian reagierte instinktiv. Garth’ Schrei und das schleifende Geräusch drangen gleichzeitig in sein Bewußtsein. Er ließ sich zur Seite kippen, rollte über die Schulter ab und kam mit einer katzenhaften Bewegung wieder auf die Füße.
Dort, wo er eine halbe Sekunde zuvor gestanden hatte, krachte etwas Schweres auf den steinernen Boden. Torian wirbelte herum, duckte sich und wich noch in der Bewegung einen weiteren Schritt zurück. Sein Schwert sprang wie von selbst aus der Scheide, zuckte hoch und prallte klirrend gegen die schwere, stachelbewehrte Keule, die gegen seine Brust zielte.
Der Aufprall ließ Torian abermals zurücktaumeln. Ein betäubender Schmerz jagte durch seine Waffenhand, explodierte in seinem Ellbogengelenk und lahmte seinen Arm. Torian fluchte, wechselte die Waffe blitzschnell von der rechten in die linke Hand und brachte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit, als der Angreifer abermals seine gewaltige Keule schwang. Garth brüllte vor Schrecken, machte aber keinerlei Anstalten, ihm zu Hilfe zu eilen, sondern glotzte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den schwarzgekleideten Krieger, der aus dem Nichts aufgetaucht war und Torian mit wütenden Keulenhieben vor sich hertrieb.
Der Mann war nur wenig größer als Torian, aber breitschultriger, und seine Rüstung schien der Alptraum eines Waffenschmiedes zu sein: schwarz, glänzend und über und über mit kleinen Metalldornen und –schneiden bedeckt. Und er schwang die zentnerschwere Stachelkeule so mühelos, als handhabe er ein Rapier oder einen leichten Zierdegen.
Torian wich verzweifelt vor dem unheimlichen Angreifer zurück, duckte sich unter seinen Hieben und versuchte gleichzeitig, selbst einen Schlag anzubringen. Der andere kämpfte nicht sehr gut- seine ungestüme Wut und die Gefährlichkeit seiner Waffe ließen ihn überlegener erscheinen, als er war. Und er schien sich vollkommen auf seine Panzerung zu verlassen.
Der Kampf endete, bevor er richtig begonnen hatte. Torian duckte sich unter einem gewaltigen, beidhändig geführten Keulenhieb weg, riß seinen Schild vom Rücken und schleuderte ihn wie einen Diskus nach den Beinen des anderen. Der Krieger versuchte dem Wurfgeschoß auszuweichen, aber seine eigene Waffe wurde ihm zum Verhängnis. Die Keule, einmal in Schwung, riß ihn vorwärts und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er taumelte, ließ seine Waffe fallen und versuchte mit einem verzweifelten Schritt seine Balance wiederzufinden.
Torian brauchte nicht einmal zuzustechen. Sein Gegner lief direkt in sein hochgerecktes Schwert hinein. Die Klinge glitt mit hörbarem Knirschen durch das schwarze Eisen seiner Panzerung.
Der Krieger röchelte. Seine Hände zuckten, krampften sich um die Schwertklinge und entrissen Torian die Waffe. Eine halbe Sekunde lang blieb er aufrecht und beinahe reglos stehen, dann kippte er grotesk langsam nach vorne. Torian versuchte zurückzuweichen, aber sein Fuß verfing sich irgendwo. Der Krieger begrub ihn halbwegs unter sich, als er zusammenbrach.
Fluchend begann er, sich unter dem reglosen Körper hervorzuarbeiten. Die winzigen Metalldorne der Rüstung schnitten schmerzhaft durch seine Kleider und fügten den kaum verheilten Wunden auf seinen Armen und Beinen neue hinzu, und an der Schwertklinge lief warmes Blut entlang und besudelte ihn. Schweratmend schob er beide Hände unter die Brust des Toten, zerschnitt sich dabei erneut die Finger und wuchtete den zentnerschweren Körper mit einer verzweifelten Kraftanstrengung hoch.
Garth erwachte endlich aus seiner Erstarrung und sprang mit einem hastigen Satz neben ihn. »Kann ich dir helfen?« fragte er. Torian hievte den Toten vollends von sich herunter, betrachtete finster seine zerschnittenen Hände und noch finsterer Garth’ Gesicht. »Nein danke«, schnappte er. »Wie kommst du darauf, daß ich Hilfe nötig habe?«
Garth machte ein betroffenes Gesicht. »Ich... es tut mir leid«, stammelte er. »Aber es ging alles so schnell, und...«