Torian schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. »Wie lange war ich bewußtlos?«
»Etwa eine halbe Stunde«, antwortete Shyleen, ebenfalls lächelnd, aber auf weitaus ernstere Weise als Garth. Ihr Blick war voller Sorge. »Aber was ist vorher gewesen?«
»Was meinst du?« Torian sah sie fragend an.
»Ich meine die Zeit, die du im Tor gewesen bist. Garth und ich kamen gleichzeitig hier an, aber eben nur wir beide. Du nicht.« Sie zuckte mit den Achseln, um eine Gleichgültigkeit vorzutäuschen, die sie nicht empfand. »Minutenlang passierte gar nichts.«
»Wir hatten schon gehofft, dich endlich los zu sein«, fügte Garth seufzend hinzu. »Dann plötzlich kamst du aus dem Tor gewankt und bist über deine eigenen Füße gestolpert. Wo hast du dich also in der Zwischenzeit wieder herumgetrieben, mein lieber Torian Carr Conn?«
»Ich habe mich nur ein bißchen in der Unendlichkeit umgesehen«, erwiderte Torian und versuchte zu grinsen, brachte aber nur eine Grimasse zustande. »Aber da war es mir zu langweilig.« Es gelang ihm nicht, seine Stimme so spöttisch klingen zu lassen, wie er es eigentlich wollte.
Der Wächter des Tores verlangt ein Opfer, hatte Kelysar gesagt. Torian schauderte noch im Nachhinein, als ihm bewußt wurde, wie nah er daran gewesen war, für immer im Tor verschollen zu bleiben.
Er verdrängte den Gedanken und sah sich um. Sie befanden sich in einem kaum drei Schritte messenden Stollen, der sich nach wenigen Schritten in undurchdringlicher Dunkelheit verlor. Shyleen und Garth hielten immer noch die Fackeln in Händen, die sie beim Betreten des Tores getragen hatten. Sie waren kaum kürzer geworden; es schien tatsächlich nicht sehr viel Zeit vergangen zu sein. Unruhig tanzte der Lichtschein über die rauhen Wände des Stollens, brach sich an unzähligen Kanten und riß kleine flackernde Sterne aus Rot und Gelb aus den Kristalleinschlüssen im Fels; warf bedrohlich anmutende Schatten, die Leben zu schaffen schienen, wo keines war. Es war ein unheimlicher Ort, fand Torian, ein Ort, der ihm Angst machte.
Er zwang sich in Gedanken energisch zur Ordnung. Er durfte sich nicht gestatten, jetzt in Panik zu geraten. Er wußte ja nicht einmal, wo sie waren, und ob hier die gleichen Gesetze wie anderswo galten; ob dieser Ort überhaupt ein Hier war.
Nervös tastete er nach seinem Schwert, und seine Nervosität wurde zu eisigem Schrecken, als ihm einfiel, daß keiner von ihnen eine Waffe bei sich hatte. Ihre Umgebung flößte ihm ein körperlich spürbares Unbehagen ein. Es war ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl, aber etwas an dieser unterirdischen Steinwelt kam ihm sonderbar falsch vor. Es schien hier Winkel zu geben, die es gar nicht gab, Formen, die bei genauem Hinsehen in den Augen schmerzten, Linien, die mit menschlichen Sinnen nicht richtig zu erkennen waren, ohne daß er zu sagen vermochte, was all diese beunruhigenden Gedanken verursachte. Torian war sich nicht sicher, ob ihm seine überreizten Nerven nur einen Streich spielten. Aber ob eingebildet oder nicht, machte keinen großen Unterschied, dachte er höchst verunsichert. Letztlich war es vollkommen egal, ob er nun durch eine eingebildete Gefahr oder eine reale den Verstand verlor.
Er hatte ähnliches schon erlebt: beim Betrachten der sinnverwirrenden Karte, die Kelysar als Köder gedient hatte, und zum Teil auch in der Schattenburg. Doch obwohl die Architektur dort ebenfalls menschlichem Vorstellungsvermögen Hohn sprach, war sie auf unmöglich in Worte zu fassende Art anders gewesen.
Auf jeden Fall war dieser Platz fremd, und er war weder von Menschen noch für Menschen geschaffen. Es war falsch, daß sie sich hier aufhielten. Sie hätten sich niemals hierher wagen sollen.
Torian drehte sich um und erwartete, das Tor zu sehen, durch das sie gekommen waren. Aber hinter ihnen war nur eine massive Felswand. Davor lag etwas auf dem Boden, das entfernt menschliehe Konturen aufwies. Als Torian nähertrat, erkannte er ein Skelett. Es zerfiel zu Staub, als er sich darüber beugte. Kelysar.
Schaudernd wandte sich Torian wieder zu Garth und Shyleen um – und fuhr ein zweites Mal zusammen. Erst jetzt, als er Shyleen genauer ansah, fiel ihm auf, daß etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmte. Sie war die Tochter eines Magiers, und wie alle Magier hatte sie ihre Unsterblichkeit verloren. Bevor sie das Tor durchschritten hatten, war sie binnen weniger Tage zu einer Greisin gealtert, deren Lebenserwartung nur noch wenige Stunden, höchstens Tage betragen konnte.
Nun hatte sich ihre Haut wieder geglättet, ihr grau gewordenes Haar, soweit es nicht verbrannt war, wieder schwarz gefärbt. Es schien, als wäre sie kaum zwanzig Jahre alt. So, wie sie immer ausgesehen hatte. In Wahrheit jedoch waren es dreihundertzweiundneunzig Jahre, wie sie Torian verraten hatte.
»Deine Haut«, murmelte er fassungslos. »Wie –«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, hastig, fast erschrocken. Unsicherheit schlich sich in ihre gerade noch so feste Stimme. »Es muß etwas mit dem Tor zu tun haben, aber wie es nun geschehen ist –« Sie brach ab und machte eine hilflose Handbewegung. »Es betrifft übrigens nicht nur mich. Eure Wunden sind verheilt. Sehr viel schneller als normal«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Torian nickte. Auf der Flucht aus Moran-Dur hatte er Verletzungen und Brandblasen davongetragen, die unter normalen Umständen Wochen zum Heilen benötigt hätten. Jetzt waren nur noch ein paar kleine Narben zurückgeblieben. Es war verwirrend. Es machte ihm Angst, wie alles an diesem Ort. »Wo sind wir hier?«
»In einem Stollen«, antwortete Garth.
»Ach ja?« gab Torian ärgerlich zurück. »Bei dir ist die Heilung ganz offensichtlich zu Lasten des Gehirns gegangen.« Er funkelte Garth an und wurde übergangslos wieder ernst. »Habt ihr euch im Stollen wenigstens ein bißchen umgesehen, während ich bewußtlos war?«
»Nein.« Shyleen schüttelte den Kopf. »Solange wir nicht wissen, wo wir sind und was uns hier erwartet, sollten wir zusammenbleiben.« Sie deutete in die Dunkelheit des Stollens hinein. »Es gibt sowieso nur diese Richtung, in die wir gehen können. Das Tor ist zusammengebrochen, kaum daß es dich freigegeben hat.«
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Torian. »Wenn dies wirklich der Weg zum Tempel der verbotenen Träume ist, dann wird er auch bewacht. Zumindest in diesem Punkt glaube ich Kelysar aufs Wort. Dieses Rattenloch ist wie geschaffen für eine Falle.«
»Dieses Risiko müssen wir wohl eingehen. Du kannst natürlich auch hier sitzenbleiben und warten, bis du verhungert bist – oder verdurstet.« Garth stand auf. »Mir wäre wohler, wenn ich wenigstens eine Waffe hätte.«
»Mir auch«, stimmte Torian zu. Er trat an das zerfallene Skelett Kelysars. Dicht neben dem Schädel des Magiers lag noch der silberne Dolch, mit dem Shyleen ihn getötet hatte. Torian hob ihn auf und steckte ihn in den Gürtel. Der kaum handlange Dolch würde ihnen nicht viel nutzen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte, aber er war besser als gar keine Waffe. Auch wenn er ihm nur das Gefühl gab, sich wehren zu können. »Gehen wir«, entschied Torian.
Vorsichtig drangen sie in den Stollen vor. Er war breit genug, um nebeneinander gehen zu können, trotzdem verzichteten sie darauf und hielten sich gestaffelt hintereinander. Torian bezweifelte allerdings, daß ihnen dies irgend etwas nutzte – wenn es hier Fallen gab, dann bestimmt keine, die so simpel zu durchschauen waren. Es genügte ja, dachte er zynisch, wenn der erste sie zu spüren bekam.
Am liebsten hätte er Shyleen gebeten, ihm den Platz an der Spitze zu überlassen, aber er wußte, daß das sinnlos gewesen wäre. Shyleen hatte oft genug gezeigt, was sie davon hielt, wenn er sich als Beschützer aufzuspielen versuchte – nämlich nichts. Dies war sicherlich nicht die passende Gelegenheit, mit ihr über ein Rollenverhalten zu streiten, das weniger seiner Überzeugung, als vielmehr seiner Erziehung entsprang. Außerdem hatte sie mehr als einmal bewiesen, daß sie sich ihrer Haut ebenso gut zu wehren verstand, wie er. Vielleicht sogar ein bißchen besser. Schließlich hatte sie einige Jahrhunderte Zeit zum Üben gehabt. Torian fragte sich, ob sie mit ihrer Jugend wohl auch ihre magischen Kräfte zurückbekommen hatte.