Nervös spielte er mit dem Dolch. Sein Unbehagen steigerte sich mit jedem Schritt. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sie nicht allein waren, sondern aus dem Dunkel heraus beobachtet wurden. Immer wieder glaubte er, aus den Augenwinkeln rasche huschende Bewegungen wahrzunehmen, aber jedesmal, wenn er den Kopf wandte und genauer hinsah, entdeckte er nur ihre eigenen, vom flackernden Licht der Fackeln herrührenden Schatten. Abgesehen vom Geräusch ihrer Schritte und ihren leisen Atemzügen war es totenstill. Torian fragte sich, wie tief sie unter der Erde sein mochten. Wie weit es bis zum Ausgang war und ob es überhaupt einen Ausgang gab. Vielleicht hörte dieser Stollen nach weiteren zehn Schritten oder auch zehn Meilen einfach auf; nichts als ein gewaltiges Wurmloch im Stein, ohne Ein- oder Ausgang. Das wäre doch endlich einmal eine originelle Falle, dachte er sarkastisch.
Trotzdem ließ seine Wachsamkeit nicht nach, auch wenn bisher nichts auf eine wie auch immer geartete Gefahr hindeutete. Der Stollen hätte Teil eines ganz normalen, seit langem stillgelegten Bergwerks sein können, wären nicht die sinnverwirrenden Winkel und Kanten gewesen, die deutlich zeigten, daß die Konstrukteure dieser Anlage keine Menschen gewesen waren. Kelysar hatte einen großen Teil seines Lebens der Suche nach dem Tempel der verbotenen Träume gewidmet und war trotz seiner magischen Kräfte schon beim ersten Versuch gescheitert. Er hatte ungeheure Anstrengungen unternommen, um Torian zu zwingen, diese Aufgabe für ihn zu erfüllen, und das bestimmt nicht, weil der Weg zum Tempel nur ein harmloser Spaziergang war und er sich allein so einsam fühlte. Was mochte einen Mann von einer Macht, wie Kelysar sie gehabt hatte, aufhalten können? dachte Torian schaudernd.
Shyleen blieb so plötzlich stehen, daß er fast gegen sie geprallt wäre. »Ihr wolltet doch unbedingt Waffen«, flüsterte sie.
Überrascht starrte Torian auf das, was vor ihnen lag: eine Ansammlung von mehr als zwei Dutzend Schwertern, Äxten und anderen Waffen, die wie achtlos liegengelassen vor ihnen auf dem Boden lagen. Mißtrauisch ließ er seinen Blick weiter durch den Stollen wandern, doch alles, was mehr als ein paar Schritte entfernt lag, verlor sich in undurchdringlicher Dunkelheit.
»Ich hätte nicht gedacht, daß unsere Wünsche so prompt erfüllt werden«, bemerkte Garth unsicher.
Torian hielt den Dieb zurück, als dieser an ihm vorbeigehen wollte. »Das gefällt mir nicht«, murmelte er. »Die Waffen hat bestimmt niemand als freundliche Gabe an uns hier hingelegt. Das riecht förmlich nach einer Falle.«
»Der ich aber mit einem Schwert in der Hand wesentlich lieber entgegentrete«, versetzte Garth schnell und auf seine gewohnt flapsige Weise. Aber seine Stimme klang eine Spur zu unsicher, um den Spott darin glaubhaft zu machen.
Torian schüttelte bedächtig den Kopf. »Den ursprünglichen Besitzern haben die Waffen auch nicht viel genutzt.« Vorsichtig trat er näher und betrachtete sie genauer, hütete sich aber, sie zu berühren. Erst jetzt wurde er gewahr, daß es sich nicht nur um Schwerter und Äxte handelte, sondern auch um Gegenstände, die er nie zuvor gesehen hatte. Einige schienen noch recht neu zu sein, andere mußten schon sehr lange hier liegen. Das Metall war stumpf und blind geworden.
»Sieht so aus, als wären wir nicht die ersten, die es bis hierher geschafft haben«, stellte Shyleen fest. »Torian hat recht. Die Waffen scheinen ihnen nicht viel genutzt zu haben. Und was oder wer immer sie überfallen hat, hatte offenbar kein Interesse daran gehabt.«
Wieder lauschten sie einige Sekunden, doch abgesehen von ihren eigenen Atemzügen herrschte nach wie vor Totenstille. Garth zuckte die Achseln und bückte sich nach einer Streitaxt. Nichts geschah, als er die Waffe berührte. Nach kurzem Zögern bedienten sich auch Torian und Shyleen. Torian entschied sich für ein beidseitig geschliffenes Schwert, das zwar nicht optimal ausgewogen war, aber recht gut in der Hand lag. Er ließ es ein paarmal durch die Luft zischen und nickte einigermaßen zufrieden. Nicht gut, aber akzeptabel.
Mit einem letzten unbehaglichen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren, ging er weiter, noch vorsichtiger als zuvor. Aber es erfolgte kein Angriff. Der wahre Feind, begriff Torian, waren ihre eigenen Ängste, welche die Realität um eine winzige Nuance in den Bereich des Geisterhaften verschob, ins Reich der Schatten und Alpträume.
Und dann wurde es dunkel, warnungslos und von einem Augenblick auf den anderen. Um sie herum herrschte plötzlich Finsternis, eine tiefe, lastende Schwärze, in der etwas Erstickendes zu sein schien. Torian fuhr erschrocken zusammen. Im ersten Moment glaubte er, ihre Fackeln wären erloschen, aber das stimmte nicht. Sie brannten noch, allerdings sehr viel schwächer als bisher, als ob etwas den Flammen die Kraft entzog. Die Wände um sie herum schienen verschwunden zu sein, einer so gewaltigen Höhle Platz gemacht zu haben, daß die Fackeln nicht ausreichten, sie zu erhellen. Dann senkte Torian den Blick und entdeckte, daß er auch den Boden nicht mehr sehen konnte. Er spürte den harten, völlig ebenen Grund weiter unter den Füßen, doch war das Gestein ebenso wie das der Wände und der Decke so finster, daß es das Licht zu verschlingen schien. Es gab nicht den kleinsten Reflex.
Zögernd ging Torian weiter. Obwohl Shyleen kaum einen Schritt von ihm entfernt stand, sah er sie nur noch schemenhaft. Etwas wie ein diffuser finsterer Nebel umgab ihre Gestalt und verlieh ihr ein unwirkliches Aussehen, als wäre sie selbst nur ein Gespenst aus grauen Schwaden.
Aber es war nicht nur das Licht; ganz und gar nicht. Da war noch etwas. Torian spürte deutlich die Anwesenheit von etwas unsagbar Fremdem. Inmitten des Nebels um sie herum trieb etwas, ohne daß er es zu definieren vermochte. Die Dunkelheit schien sich in ständiger, ungreifbarer Bewegung zu befinden, als wohne ihr ein unheimliches Eigenleben inne. Als er noch einmal zu Boden blickte, glaubte er dicht vor seinen Füßen etwas wie eine pechschwarze Wurzel zu erkennen. Er blinzelte, und die vermeintliche Wurzel verwandelte sich in etwas, das wie ein Nest aus unzähligen schleimig glänzenden Schlangen aussah, zu einem unentwirrbaren Knäuel ineinander verschlungen. Mit einem Keuchen prallte Torian zurück, und die widerliche Masse verschwand. Nichts weiter als ein neuerliches Trugbild, wie alles hier.
Er schaute sich nach Shyleen und Garth um, konnte sie aber nirgendwo erkennen. Rauchige Schattenarme schienen im Schutz des Nebels auf ihn zuzugleiten, und plötzlich war er sich fast sicher, daß es sich keineswegs nur um Einbildung handelte. Etwas Massiges, Großes verbarg sich hinter den tanzenden Schwaden. Aber er wußte noch nicht, was.
Etwas berührte ihn an der Schulter, ganz leicht nur und tastend, kaum wahrnehmbar.
Torian fuhr herum. Er sah nichts, aber er spürte immer deutlicher, daß irgend etwas da war. Die Dunkelheit war nicht leer. Sie war ein Versteck. Vielleicht war sie die Gefahr selbst. Vielleicht war sie keine Dunkelheit, sondern etwas anderes, Lebendes, Böses...
»Verdammt, was soll das?« sagte Garth hinter ihm. Torian drehte sich um. Ein schwacher Lichtpunkt, kaum mehr als ein flackerndes Glimmen, alles, was von Garth’ Fackel geblieben war, schälte sich vor ihm aus der Dunkelheit. Die Flamme brannte noch weiter, aber sie spendete kaum noch Licht, als fresse etwas die Helligkeit. Trotzdem – gegen ihren matten Schein nahm Torian plötzlich eine schattenhafte Bewegung wahr.
Es war wirklich kaum mehr als ein Schatten, ein dünnes, nicht einmal armstarkes Ding, das von der Decke herabhing und sich geschmeidig wie ein Tentakel auf ihn zubewegte, aber dicht vor ihm wieder zurückwich. Als Torian nach oben sah, erblickte er eine kleine, nur handtellergroße Fläche normalen Felsgesteins inmitten der lichtschluckenden Schwärze.