Einige der menschenähnlichen Wesen waren ihm nicht unbekannt. Er hatte sie schon einmal gesehen, wenn auch nur in einer Vision auf dem Weg zur Schattenburg. Sie gehörten einem Volk an, das vor langer Zeit nach Caracon gekommen war. Die meisten von ihnen waren in der Staubwüste gestorben. Die meisten, aber nicht alle, wie ihr Hiersein bewies.
Ihr Götter! dachte Torian beklommen, das war vor mehr als zehntausend Jahren!
»Was ... was ist das hier?« stammelte Garth. »Welchen Sinn hat dieses ... dieses Museum? Wer hat es eingerichtet? Warum?!« Als Torian ratlos die Achseln zuckte, fügte er hinzu: »Und warum hat man die Waffen einfach liegengelassen?«
»Vielleicht als Warnung«, vermutete Torian.
Garth sah sich demonstrativ um. »Es scheinen nicht viele die Warnung beachtet zu haben.«
Torian schwieg. Sein Herz schlug schwer und hart und sehr langsam, er fühlte sich benommen, auf sonderbar unkörperliche Weise gelähmt, als wäre der Tod nun auch in Person hinter sie getreten und hätte mit eisigen Knochenfingern etwas in seiner Seele berührt.
»Wir müssen nachsehen, wo Shyleen geblieben ist«, drängte Garth.
»Ich glaube kaum, daß wir ihr helfen können«, erwiderte Torian leise. Er erschrak selbst über die Kälte und Gefühllosigkeit, mit der er über Shyleens Tod sprach; oder einem Schicksal, das noch schlimmer war. Aber er fühlte weder Trauer noch Schmerz. In seinen Gedanken war nur Leere. Er stand immer noch unter dem Schock dessen, was er beim Durchschreiten des Tores erlebt hatte. Es war, als hätte er etwas von dem, was sein Menschsein ausgemacht hatte, in dem kalten stillen Reich zwischen Leben und Tod zurückgelassen.
Er verscheuchte den Gedanken.
»Kelysar hat uns gewarnt, der Wächter des Tores würde ein Opfer fordern«, fuhr er fort. »Ich dachte, es ... es hätte etwas mit mir zu tun. Damit, daß ich fast in dem Tor geblieben wäre, oder Kelysar selbst wäre das Opfer gewesen. Ich fürchte, ich verstehe erst jetzt, was er wirklich gemeint hat.«
Garth schloß stöhnend die Augen. Für einen Moment stand er reglos da, die Hände zu Fäusten geballt und jeden einzelnen Muskel seines mächtigen Körpers bis zum Zerreißen gespannt. »Ich verstehe. Er hätte einen von uns vorgeschickt. Während dieses Monstrum sein Opfer hierher gebracht hätte, wäre der Stollen frei gewesen. Aber das bedeutet...« Er brach ab und fuhr herum.
Torian hörte das Geräusch im selben Augenblick. Es war ein leises Rascheln, wie von hornigen Schuppen, die gegeneinanderrieben, ein Kratzen und Scharren wie von winzigen, krallenbewehrten Füßen. Gebannt starrte er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Es sah aus, als dringe eine Wolke lebendig gewordener Finsternis aus dem Gang. Die gestaltlose Kreatur, die ihnen aufgelauert hatte, erschien ihnen jetzt in einer humanoiden Form, die grausame Verhöhnung eines menschlichen Lebens. Auch jetzt noch war sie eine tentakelbewehrte Scheußlichkeit, riesig, fast drei Meter groß, ohne wirklichen Körper, sondern aus Tausenden und Abertausenden einzelner, dünner Wurzelfäden gewoben. Es war die Karikatur eines ins Absurde verzerrten Menschen, ganz offensichtlich ihrem letzten Opfer nachempfunden.
Shyleen.
Mit hocherhobenem Kopf ging sie dicht neben der unglaublichen Kreatur. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, ihr Blick war kalt, leblos. Ihre Augen erinnerten an gläserne Kugeln, in denen nie Leben gewesen war. Sie bewegte sich wie in Trance, mit den langsamen, mechanisch wirkenden Schritten eines Menschen, der seinen eigenen Willen verloren hatte.
Aber sie war noch am Leben.
Torian riß seinen Blick mühsam von ihr los und betrachtete wieder die Kreatur an ihrer Seite. Seine Finger schlössen sich fester um den Griff des Schwertes, doch obwohl er und Garth deutlich sichtbar vor der Felswand standen, schien das Alptraumgeschöpf sie nicht einmal wahrzunehmen. Und wenn doch, so kümmerte es sich nicht um sie.
»Es sieht uns nicht«, flüsterte Garth. Die Kreatur wandte ihr groteskes Gesicht in seine Richtung. Das Peitschen ihrer dünnen, pflanzlichen Arme wurde unruhiger, schneller.
Torian warf Garth, dem Dieb, einen raschen, warnenden Blick zu. Vielleicht hatte er recht – aber dafür schien die Kreatur über ein umso schärferes Gehör zu verfügen. So leise wie möglich glitt er einige Schritte zur Seite, den Blick unverwandt auf das ohne Hast näherkommende Ungeheuer gerichtet, statt auf den Boden zu achten. Und diese Unaufmerksamkeit rächte sich sofort. Er stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, der zur Seite kollerte. Torian fluchte lautlos, doch seine Wut schlug gleich darauf in Überraschung um, als er sah, daß das bizarre Monstrum nicht im geringsten reagierte. Unbeirrt setzte es seinen Weg fort.
»Es hat uns gar nicht gehört«, murmelte er. »Es will nur an die Nischen.«
»Ja, um seine Sammlung zu vergrößern«, erwiderte Garth bitter. »Um Shyleen.«
Torian wich ganz langsam weiter vor dem Ungeheuer zurück. Wahrscheinlich, dachte er, besaß diese Kreatur nicht einmal wirkliche Sinnesorgane. Sie reagierte einfach auf Berührung, ein simpler, aber tödlicher Mechanismus, der es zu einem fast unüberwindlichen Wächter machte. Vielleicht lebte es nicht einmal im wirklichen Sinne des Wortes. Es existierte, aber es war nicht einmal ein Es, sondern nur ein Etwas, ein Ding, dessen einziger Daseinszweck das Töten war.
Vorsichtig näherte er sich dem Monster wieder. Es reagierte nicht einmal, als er sich ihm bis auf Armeslänge genähert hatte. Willenlos trat Shyleen in eine der freien Nischen und drehte sich herum. Ihr Gesicht war leer.
Im gleichen Moment veränderte sich die Kreatur. Sie ähnelte plötzlich kaum noch einem Menschen, verlor ihre feste Form und verwandelte sich in ein wogendes, gestaltloses Etwas. Nur im Zentrum der zitternden Masse, ungefähr dort, wo bei einem Menschen das Herz schlug, entdeckte Torian ein dunkles, kaum kopfgroßes Etwas, das auch jetzt noch aus nichts als kompakter Schwärze zu bestehen schien.
»Was bedeutet das?« fragte er ratlos. Garth antwortete nicht.
Das Unwesen berührte Shyleen mit einem seiner zahllosen Pflanzenarme am Kopf und glitt beinahe sanft über ihr Gesicht. Wo der dünne schwarze Strang ihre Haut berührte, blieb ein feiner, kaum sichtbarer Film zurück, glitzernd und klebrig, wie die schreckliche Haut, welche die anderen Toten umhüllte. Torians Herz machte einen schmerzhaften Sprung.
»Torian!« brüllte Garth mit überschnappender Stimme. »Tu etwas!«
Shyleen war bereits bis zu den Hüften von der durchsichtigen Masse eingehüllt, als Torian ihre vielleicht einzige Chance erkannte. Blitzartig riß er den Dolch aus dem Gürtel, zielte kurz und schleuderte ihn dann mit aller Kraft. Mühelos drang der Dolch in die wirbelnde Masse ein und traf das schwarze, herzähnliche Etwas.
Ein unerträglich hoher Schrei drang an Torians Ohren. Das Ungeheuer bäumte sich auf, fuhr mit einer erstaunlich raschen Bewegung herum und griff mit einem Dutzend Armen, die eine halbe Sekunde zuvor noch nicht dagewesen waren, gleichzeitig nach ihm. Torian duckte sich zur Seite, schlug blindlings mit dem Schwert zu und packte im selben Moment Shyleen. Verzweifelt riß er sie aus der Felsnische heraus und damit aus der Reichweite des tobenden Monstrums. Sie wehrte sich nicht gegen ihn, sondern blieb weiterhin völlig apathisch.
Das Ungeheuer leider nicht.
Torians Dolch hatte das finstere Zentrum in seiner Mitte getroffen, aber es war keineswegs tot, sondern raste vor Schmerz und Wut. Dutzende von dünnen Fühlern tasteten nach Torian und Shyleen, immer mehr und schneller, als er sie zerschneiden konnte, denn er wurde zusätzlich durch Shyleen behindert, die wie in Trance neben ihm herstolperte. Garth sprang mit einem wütenden Schrei neben ihn und schwang seine Axt.