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Wahrscheinlich war es pures Glück, das sie rettete.

Die Klinge der riesigen Streitaxt traf das pulsierende Herz des Ungeheuers, ebenso zielsicher wie Torians Dolch zuvor, aber mit ungleich größerer Wucht. Die Kreatur schrie erneut auf, ein gräßlicher Laut, der Torians Schädel zum Zerbersten zu bringen schien. Sie taumelte zurück. Plötzlich wurde aus den wütenden Hieben ihrer zahllosen Arme ein zielloses Peitschen, als sie in irrsinniger Wut in die Luft schlug. Dann, taumelnd und sehr langsam, sackte sie zu Boden.

Im gleichen Moment erwachte Shyleen aus ihrer Trance. Sie sackte in Torians Armen zusammen, konnte aber das Gleichgewicht halten. Einen Herzschlag lang sah sie sich verwirrt um, dann verzerrte sich ihr Gesicht vor Schrecken; sie begann gellend zu schreien. Blindlings schlug und trat sie um sich, dann zuckte ihre Hand hoch. Die Finger waren wie Klauen gekrümmt.

Torian schlug ihr zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihre Gegenwehr erlosch. Erst jetzt kam Shyleen zur Besinnung und erkannte ihn. Sie schluchzte und klammerte sich hilfesuchend an ihn. Diese Reaktion überraschte Torian fast noch mehr, als ihr Angriff zuvor. Es war das erste Mal, daß er so etwas wie ein menschliches Gefühl an ihr entdeckte.

Eine Sekunde später schämte er sich fast für seine eigenen Gedanken. Shyleen mußte Entsetzliches durchgemacht haben, und plötzlich sah Torian sie mit anderen Augen. Durch ihr Verhalten hatte sie ihn beinahe vergessen lassen, daß sie mehr war als nur irgendein Mensch, mit dem er zufällig in den letzten Wochen zusammen gereist war, und auch nicht nur ein Kampfgefährte. Er sah sie plötzlich als die Frau, die sie war, wenn sie sich auch durch ihre Unnahbarkeit alle Mühe gab, dies völlig in den Hintergrund treten zu lassen. Sie haßte alle Schwäche und hatte in den vergangenen Wochen mehr Stärke gezeigt, als die meisten Männer, die Torian kennengelernt hatte und die sich für besonders hart hielten. Aber sie hatte diese Härte auch gegen sich selbst gezeigt, und es war abzusehen gewesen, daß ihre Nerven irgendwann versagen würden. Stärke war nicht immer nur von Vorteil. Diese Gedanken schössen ihm in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf. Nicht weil sie eine Frau war und seine Beschützerinstinkte weckte, sondern weil sie als Mensch seine Hilfe brauchte, hob er den Arm, um ihn ihr um die Schultern zu legen, führte diese Bewegung aber nicht zu Ende.

Garth’ Schrei ließ ihn herumfahren.

Das Ungeheuer war zu Boden gestürzt, aber nicht einmal Garth’ mit aller Gewalt geführter Axthieb hatte es wirklich vernichtet. Torian beobachtete ungläubig, wie sich das finstere Etwas in seinem Zentrum neu formte: Es war fast in zwei Hälften gespalten, aber er sah jetzt, daß auch dieses Herz-Gehirn-Nervenzentrum oder was immer es sein mochte kein wirklicher Körper war, sondern auch seinerseits wieder aus Millionen und Abermillionen einzelner dünner Fäden bestand, wie mikroskopisch feine Nerven, die sich zu einem monströsen Etwas zusammengeschlossen hatten. Garth’ Axthieb hatte einige Hunderte oder auch Tausende davon zertrennt, aber der Rest begann emsig aufeinanderzuzukriechen; es sah aus wie zwei Bündel schwarzer Haare, die in einem unfühlbaren Wind wogten und sich dabei mehr und mehr ineinander verhedderten.

»Verschwinden wir lieber von hier, bevor das Ding aufsteht und sein Frühstück sucht«, drängte er. Der Klang seiner Stimme machte die bewußt scherzhafte Wahl seiner Worte zunichte, und auch Garth rang sich nur ein gequältes Lächeln ab, ehe er zustimmend nickte und sich nach seiner Axt bückte.

Torian behielt sein Schwert in der Hand, als sie zum Ende der Höhle gingen, und sah sich noch einmal mißtrauisch um, bevor er den anderen durch das doppelt mannshohe Loch in der Felswand folgte. Sie waren jetzt zu weit von dem Pflanzenungeheuer entfernt, als daß er es deutlicher denn als amorphe wogende Masse erkennen konnte; aber die Regeneration schien nicht ganz so schnell zu gehen, wie im ersten Moment zu befürchten war. Trotzdem hatte er das sichere Gefühl, daß es besser war, sich möglichst weit weg von diesem Ort zu befinden, wenn das Ungeheuer wieder völlig erwacht war. Er hatte keine Ahnung, ob dieses Ding so etwas wie Rachegefühle kannte – aber er hatte auch keine Lust, es herauszufinden. So, wie es aussah, dachte er, waren sie hier auf einen Gegner gestoßen, den sie mit ihren Waffen nicht besiegen konnten. Vielleicht konnte man es nicht töten.

Er verscheuchte den Gedanken und beeilte sich, den anderen zu folgen. Sie gelangten in einen Stollen, der sich in nichts von dem unterschied, durch den sie gekommen waren, ein weiteres Loch im Berg, das ins Unbekannte führte; vielleicht in die Freiheit, vielleicht in eine weitere, noch hinterlistigere Falle. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Shyleen hatte sich wieder gefangen, aber sie wich seinem Blick aus, und Torian mußte seine Phantasie nicht besonders strapazieren, um nachzuempfinden, was in ihr vorging; zu der Gefahr, der sie im buchstäblich allerletzten Moment entronnen war, kam noch die Erniedrigung, als die sie die Tatsache empfinden mußte, sich vor Torian so gehengelassen zu haben. Sie würden darüber reden müssen; bald.

Schweigend drangen sie tiefer in die Dunkelheit des Ganges vor, alle drei von dem gleichen, mit Furcht gepaarten Unbehagen erfüllt. Diesmal beobachteten sie die Wände und die Decke genauer, prüften sorgsam den Boden vor jedem Schritt. Allein die Angst vor einer neuen Falle zerrte schon mehr an ihren Nerven, als es ein wirklicher Angriff vielleicht getan hätte. Torian überlegte, ob dies vielleicht schon die nächste Falle war – wenn es hier unten Pflanzen gab, die dachten, warum dann nicht auch Angst, die tötete?

Aber ihre Vorsicht erwies sich als unnötig. Bereits nach wenigen Minuten wurde es vor ihnen hell. Torian erkannte einen münzgroßen, unregelmäßigen Fleck irgendwo am Ende des Tunnels und ging unwillkürlich schneller, und auch Shyleen und Garth beschleunigten ihre Schritte, bis sie das Ende des Stollens erreicht hatten. Grelles Sonnenlicht ließ Torian die Augen zusammenkneifen, unwillkürlich hob er die freie Linke vor das Gesicht.

Als sich seine Augen schließlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte er in ein Tal hinab, das von hoch aufragenden Bergen wie von einer Mauer umgeben war. Es war gewaltig, so groß, daß sich die hügelige Landschaft irgendwo in nebliger Ferne verlor, und vielleicht war es auch kein Tal, sondern das Vorland eines zyklopischen Gebirges. Über ihnen wölbte sich ein Himmel von schmutziggrauer Farbe, vor dem Wolken träge dahinzogen. Ein kühler, aber sanfter und nicht einmal unangenehmer Wind wehte ihnen entgegen. Er trug den Geruch von Gras und blühenden Blumen mit sich, der Torian nach der verbrauchten Luft im Stollen doppelt erfrischend erschien. Er atmete ein paarmal tief durch.

Sie standen fast am Fuß eines Berges, dessen Flanke hinter ihnen lotrecht in die Höhe ragte; so hoch, daß sie den Himmel zu berühren schien und Torian den Gipfel nur ahnen konnte, als er den Kopf in den Nacken legte. Wind und Regen hatten das Gestein nicht verwittern lassen, sondern es so glatt geschmirgelt, daß es wie poliert aussah. Torian mußte erneut an eine Mauer denken, und es war eine unangenehme Assoziation; er kam sich gefangen vor, eingesperrt. Nirgendwo in der Wand gab es Vertiefungen oder Vorsprünge. Die gigantische Felsplatte war einfach eine einzige ebene Fläche. Nur der Eingang zum Stollen klaffte darin. Aber es war nicht einfach nur ein Loch im Berg; Torian mußte an das aufgerissene Maul eines Untiers denken, in dessen unmittelbarer Nähe selbst das Gras verdorrt war. Es vermittelte den Eindruck, als ob sich ein Stück Nacht aus der unterirdischen Felswand ins Sonnenlicht herüberzuziehen versuchte, um ihnen zu folgen.

Torian runzelte die Stirn. Der Anblick erfüllte ihn mit Unbehagen, und er wandte den Blick rasch wieder ab. Was er auf der anderen Seite sah, war schon angenehmer.

Vor ihnen führte ein sanfter Abhang in das Tal hinunter. Nicht weit entfernt erstreckte sich ein ausgedehntes Waldstück; eine kompakte grüne Fläche auf die große Entfernung, deren bloße Farbe dem Auge wohltat. Ein Fluß schlängelte sich wie ein blaues, in sanften Windungen und Schleifen hingeworfenes Band durch das Tal und verschwand in der Ferne.