Sie hatten die Strecke bis zum Waldrand erst knapp zur Hälfe bewältigt, als die Sonne hinter den Berggipfeln zu versinken begann. Unbehaglich sah sich Torian um. Der Gedanke, im offenen Gelände zu übernachten, gefiel ihm gar nicht. Das Gras war so niedrig, daß man sie auch beim Sitzen schon von weitem sehen konnte, andererseits aber wieder hoch genug, um heranschleichende Raubtiere oder andere Feinde zu verbergen. Bislang machte alles hier einen friedlichen Eindruck, und abgesehen von einigen Vögeln hatten sie nicht ein einziges Tier zu Gesicht bekommen. Aber das konnte sich nach Einbruch der Nacht rasch ändern. Er rief sich ins Gedächtnis, daß diese Umgebung nur dazu geschaffen war, Eindringlinge wie sie am Erreichen des Tempels zu hindern.
»Wer war es?« murmelte er.
»Wer war was?« fragte Garth.
Torian begriff, daß er seine Gedanken, ohne es zu merke’n, laut ausgesprochen hatte und wandte sich um. »Ich frage mich, wer unbedingt verhindern will, daß jemand den Tempel findet«, gab er zur Antwort. »Und warum?«
Garth zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wer es war, ganz so alt bin ich nämlich noch nicht, weißt du? Außerdem –wenn dir das Geheimnis ewigen Lebens bekannt wäre, würdest du es jedem erzählen? Junge, Junge, auf der Welt würde es bald ziemlich eng, wenn alle Menschen unsterblich wären.«
»Soweit war ich auch schon. Die Erklärung klingt im ersten Moment nämlich so schön einleuchtend«, gab Torian lächelnd zurück. »Im zweiten klingt sie allerdings mindestens genauso blödsinnig.«
»Ach ja? Dann wäre es nett, wenn du einen ungebildeten Dummkopf wie mich an deiner Weisheit teilhaben ließest. Ich sehe nämlich beim besten Willen nicht, was an dieser Erklärung so blödsinnig sein soll.«
»Der Grund«, sagte Torian ruhig. »Alles ist völlig unlogisch. Wenn du etwas wüßtest, was niemand sonst erfahren soll, würdest du dieses Geheimnis dann in einem Tempel verewigen und ein solch gewaltiges System von Fallen und Sicherungen aufbauen, nur damit es dann doch niemand findet?« Er machte eine kurze Pause und lachte leise. »Es gibt eine wesentlich einfachere Methode. Du behältst dieses Geheimnis einfach für dich, und da es sich um die Unsterblichkeit handelt, wird es trotzdem nicht verloren gehen.«
Garth kratzte sich verblüfft am Kopf und dachte schweigend darüber nach, dafür ergriff Shyleen das Wort. »Wenn ihr beiden fertig seid, können wir vielleicht weiter gehen, ja? Ich habe keine Lust, hier zu übernachten. Der Wald bietet uns besseren Schutz.«
»Wovor?« fragte Garth trocken. »Vor dem Wald?«
Shyleen warf ihm einen bösen Blick zu, und Torian unterdrückte ein Grinsen. Aber sie setzten sofort ihren mühsamen Marsch fort. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter den Bergen versunken, so daß es aussah, als ob die Gipfel spitze Zacken aus dem rotglühenden Ball herausbeißen würden. In ein paar Augenblicken würde es hier vollends dunkel sein. Da bislang nichts passiert war, verzichtete Torian darauf, vor jedem Schritt den Untergrund mit dem Schwert zu untersuchen. So schnell es das Gelände zuließ, hasteten sie vorwärts – was nicht sehr schnell war. Das Gras wuchs hier noch üppiger, reichte ihnen stellenweise schon bis zur Hüfte. Es schien höher und fester zu werden, je näher sie dem Wald kamen, stellte Torian besorgt fest.
Garth stieß einen leisen Schrei aus, dann begann er zu fluchen.
»Was ist?« fragte Torian.
»Ich habe mich an irgend etwas geschnitten«, erklärte er, verzog das Gesicht und schlenkerte seine Hand. Torian grinste, doch im nächsten Moment verspürte er ebenfalls einen schneidenden Schmerz am Bein. Er bückte sich, schob mit der Hand einige Grashalme zur Seite – und riß die Hand mit einem Schmerzenslaut wieder zurück. Aus drei kleinen Schnitten am Handrücken drang Blut.
»Das Gras!« schrie Shyleen. »Was ist mit dem verdammten Gras los?«
Torian sah es im gleichen Moment. Obwohl der Wind immer noch so schwach wie zuvor war, wogte das Gras plötzlich stärker. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh ihm ein irgendwie ... blutiges Aussehen. Die einzelnen Halme schwangen hin und her, als wären sie von eigenem, unheimlichen Leben erfüllt. Zugleich schienen sie breiter zu werden, irgendwie fleischiger, mit Kanten, die scharf wie Messer waren. Einer der Halme berührte Torians Arm, knickte ein wenig ab und schlang sich wie zufällig um sein Handgelenk.
Torian wollte sich losreißen, besann sich im letzten Moment, und durchtrennte den Halm mit dem Schwert. Vorsichtig griff er nach der abgeschlagenen Spitze und warf sie weg. Der Halm fühlte sich fast metallisch an. Ein Blutstropfen quoll aus dem haarfeinen Schnitt.
Entsetzt schaute sich Torian um. Je tiefer die Sonne sank, desto stärker bewegte sich das Gras. Ihr Götter! dachte er. Es ist das Ding aus dem Berg. Es ist uns gefolgt!
Garth überwand seinen Schrecken als erster. Mit einem Keuchen riß er Torian das Schwert aus der Hand und schlug wild um sich. Er führte die Klinge wie eine Sense, mähte das Gras vor ihnen mit wuchtigen Hieben nieder. »Kommt endlich!« schrie er.
Shyleen packte Torians Hand und zog ihn mit sich. Sie folgten der Bresche, die Garth schlug, dennoch wurden sie immer wieder von den wild hin und her preitschenden Grashalmen getroffen. Die hauchdünnen Kanten bissen wie mit winzigen Zähnen in ihre Haut und fügten ihnen schmerzhafte Schnitte zu. Keine der Verletzungen war wirklich gefährlich, aber Hunderte von Nadelstichen konnten schließlich ebenso tödlich sein, wie ein Schwerthieb. Jede Wunde zehrte an ihren Kräften, und jede neue tat ein klein wenig mehr weh. Er hatte das Gefühl, die Haut würde ihm in Streifen vom Körper gerissen werden.
Grashalme, dachte er. Das Ding aus dem Berg. Es mußte überall hier sein, vielleicht mit jedem Fußbreit Boden in diesem ganzen verdammten Tal verbunden, wie ein ungeheuerliches Spinnennetz. Es gab keinen greifbaren Gegner, sie kämpften gegen nichts weiter als Gras, das durch eine teuflische Macht zu einer entsetzlichen Waffe geworden war.
Der hünenhafte Garth wütete wie ein Berserker, aber es war unverkennbar, daß seine Bewegungen bereits an Geschmeidigkeit und Kraft verloren. Auch er blutete aus unzähligen kleinen Wunden, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Seine Muskeln traten wie dicke, knotige Stränge unter der Haut hervor. Er atmete schwer und stoßweise.
»Laß mich nach vorne«, keuchte Torian und nahm ihm das Schwert aus der Hand. Das Heft war voller Blut. Erleichtert taumelte der Dieb einen Schritt zurück und wäre vor Schwäche gestürzt, hätte Shyleen nicht rechtzeitig zugepackt und ihn aufgefangen.
Als wüßte das Gras um seine Schwäche, nutzte es den Moment, bis Torian das Schwert richtig gepackt hatte. Ein ganzer Wald der lebenden Messerklingen schlug nach seinem Gesicht und brachte ihm blutende Schnitte an der Wange bei. Er ignorierte den Schmerz und schlug die Halme fluchend zur Seite.
Der Waldrand lag nicht mehr weit entfernt, vielleicht zwanzig normale Schritte. Aber es war ein Spießrutenlauf durch die Hölle. Die Sonne verschwand vollends hinter den Berggipfeln, so daß der Mond, der zuvor nur schwach und verschwommen zu sehen war, das Tal mit seinem silbernen Licht übergoß.
Im gleichen Moment gerieten die Pflanzen in Raserei.
Schwerfällig anmutende, in Wahrheit aber ungeheuer schnelle Bewegungen durchliefen die Wiese. Die Halme verwandelten sich in wild umherzuckende Peitschenschnüre, die sich ihnen von vorne wie eine messergespickte Barriere entgegenstreckten, und von der Seite auf sie einschlugen. Entsetzt erkannte Torian, daß sie nicht nur metallisch aussahen, sondern sich im Mondlicht wirklich in dünnes, ungemein biegsames Metall verwandelt zu haben schienen, zumindest in etwas, das so hart und schneidend und vielleicht härter als Metall war.