Die Schritte kamen näher. Garth wollte etwas sagen, aber Torian hob rasch die Hand und gebot ihm mit einer Geste, zu schweigen. Über dem Rand des Schachtes erschien ein schwarzer, stachelgekrönter Helm.
Torian erreichte die Öffnung im selben Moment, in dem der Mann den Kopf hob und ihn durch die schmalen Schlitze seines Visiers ansah. Für die Dauer eines Atemzuges war er gelähmt vor Überraschung – und diese kurze Frist genügte Torian. Mit einem kraftvollen Satz überwand er die letzten Schritte, schwang seine Waffe und ließ das Schwert mit einem mächtigen, beidhändig geführten Hieb hinuntersausen.
Der andere kam nicht einmal mehr dazu, einen Schreckensschrei auszustoßen. Torian drehte die Klinge im letzten Moment, so daß sie nur mit der Breitseite auf den Helm krachte, statt ihn mit der Schneide zu treffen und zu spalten, aber allein die ungestüme Wucht des Hiebes reichte aus, den Fremden zurückzuschleudern und rücklings die Treppe hinunterstürzen zu lassen. Torian setzte ihm, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, nach, überwand das letzte Stück mit einem gewagten Satz und kam breitbeinig über dem reglosen Körper zum Stehen. Die Spitze seiner Klinge zuckte hinunter, bohrte sich durch den Panzer des Mannes und verharrte einen halben Zentimeter über seiner Kehle.
Der Fremde rührte sich nicht. Seine Brust hob und senkte sich sichtlich, aber er war bewußtlos. Torian hob das Schwert wieder, trat ein paar Schritte zurück und atmete tief durch. Sein Herz jagte. »Torian!« Garth’ Gesicht erschien über dem Rand des Treppenschachtes. »Alles in Ordnung?«
Torian nickte abgehackt. »Ja«, antwortete er. »Es ist alles vorbei — du kannst kommen.«
Der Dieb nickte, drehte sich um und begann schwerfällig rückwärts die steinernen Stufen hinabzusteigen.
Torian sah sich gleichermaßen neugierig wie mißtrauisch um. Was er sah, enttäuschte ihn fast. Mit Ausnahme der Treppe war der kleine, rechteckige Raum vollkommen leer. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür, und hinter seinem Rücken – kaum drei Schritte vom Ausgang entfernt, begann bereits die Treppe. Sie war nicht sehr lang – die oberste Stufe lag kaum eine Armeslänge über seinem Kopf, und die Wände bestanden aus dem gleichen grauen Fels wie oben. Und doch war irgend etwas anders. Er vermochte den Unterschied nur nicht in Worte zu fassen. Aber er spürte ihn.
Garth kam neben ihm an, beugte sich kurz über den schwarzgekleideten Krieger und sah ihn fragend an. »Ist er tot?«
»Nein«, erklärte Torian. Garth schien noch etwas sagen zu wollen, beließ es aber bei einem resignierten Achselzucken, als er Torians Blick auffing. Vorhin, während des Kampfes gegen den ersten Angreifer, hatte er keine große Wahl gehabt – es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen, und hätte er nicht zuerst zugestoßen, läge er jetzt tot oben auf den Steinfliesen. Jetzt war die Situation anders. Der Krieger war unschädlich, und Torians Hieb war stark genug gewesen, ihn für Stunden auszuschalten. Mit etwas Glück würde er mit so gewaltigen Kopfschmerzen aufwachen, daß er weitere Stunden brauchen würde, um zu erkennen, daß ihm nicht der Himmel auf den Kopf gefallen war, sondern eine Schwertklinge. Nein, dachte Torian trotzig- fast, als müsse er sich vor sich selbst rechtfertigen –, es gab keinen Grund, den Mann zu töten.
»Gehen wir weiter«, knurrte er, ehe Garth Gelegenheit fand, doch noch zu widersprechen. Behutsam stieg er über den Bewußtlosen hinweg, stieß die Tür mit der Schwertklinge auf und spähte mit klopfendem Herzen durch die Öffnung.
Dahinter lag ein gewölbter, fensterloser Gang, wie alles hier eine Spur zu niedrig, um wirklich aufrecht darin stehen zu können, vielleicht zwanzig Schritte lang und von einer Anzahl blakender Fackeln erhellt, die in kunstvoll geschmiedeten Haltern steckten. An seinem Ende lag eine weitere Tür. Auch sie stand einen Spaltbreit offen. Und hinter ihr schimmerte goldenes Sonnenlicht. Über die Festung spannte sich ein wolkenloser Himmel wie eine blaue Kuppel. Die Sonne stand eine halbe Handbreit über der östlichen Mauer und warf gezackte Schatten auf den polierten Marmor des Innenhofes. Ein leichter Wind wehte, ließ die langen, saftig-grünen Blätter der Palmen rascheln, die den Hof säumten, und trug eine verwirrende Vielfalt von Geräuschen und Gerüchen mit sich, und die Luft war von einer Klarheit, wie man sie sonst nur in den Bergen und selbst dort nur an wenigen Tagen des Jahres vorfand.
Torian starrte einen Herzschlag lang verblüfft nach oben, blickte sich hilflos um und bewegte sich einen halben Schritt aus dem Gebäude hinaus. Der Hof war gewaltig: eine glatte, mit schwarzem Marmor gepflasterte Fläche, groß genug, um mindestens tausend Menschen aufzunehmen. Aber er war – zumindest im Augenblick leer.
Trotzdem waren die beiden Männer, denen sie im Turm begegnet waren, nicht die einzigen. Irgendwo, etwas weiter entfernt, waren Stimmen und das Schnauben von Pferden – sehr vielen Pferden – zu hören, und als Torian die Tür ein Stück weiter aufschob, stob ein Mauerbrüter aus seinem Nest über dem Türsturz davon und schwang sich schimpfend und flügelschlagend in die Luft. Das Licht war sanfter geworden, irgendwie weicher, und das boshafte Hecheln des Windes war verstummt.
»Ha?« stieß Garth hervor. »Was...«
Torian brachte ihn mit einer heftigen Bewegung zum Schweigen, trat in den Gang und spähte abwechselnd auf den Hof hinaus und zurück dorthin, wo sie hergekommen waren. Hinter ihnen bewegte sich die Dunkelheit. Der Gang war leer, und doch... Torian schüttelte verwirrt den Kopf. Es sah aus, als hätten die Schatten Flügel bekommen.
»Was hat das zu bedeuten, bei allen Sumpf geistern?« murmelte Garth fassungslos. »Bin ich jetzt vollkommen verrückt geworden, oder sehe ich wirklich, was ich sehe?«
Torian unterdrückte ein Lächeln. Er war kaum überrascht; im Gegenteil – er hatte etwas wie das hier erwartet.
Was nicht hieß, daß er es verstand.
Garth setzte dazu an, eine weitere Frage zu stellen, aber Torian brachte ihn erneut mit einer raschen Geste zum Verstummen und deutete hinaus. Der Hof war nicht mehr so leer wie noch vor Augenblicken. In einem der würfelformigen Gebäude, die in die Innenseite der Mauer eingebaut waren, hatte sich eine Tür geöffnet, und vier Menschen waren ins Freie getreten. Torian beobachtete sie gebannt. Zwei von ihnen trugen die schwarzen, stachelbewehrten Rüstungen, die sie bereits kannten, der dritte Mann war in ein sackähnliches, schmuckloses Gewand gekleidet, das seinen Körper völlig verhüllte. Das einzige, was das Grau seiner Kleidung unterbrach, war ein handgroßer, sechsstrahliger Stern aus silberfarbenem Metall, der an einer dünnen Kette auf seiner Brust hing. Auf dem Kopf trug er eine sonderbare Mischung zwischen Hut und Helm, und seine Hände staken in glitzernden, bis weit über die Ellbogen reichenden Handschuhen. Die Frau war ähnlich gekleidet, nur daß ihr Gewand aus einem dünnen, im hellen Gegenlicht der Sonne beinahe durchsichtigen Stoff bestand, durch den die Konturen ihres Körpers deutlich zu erkennen waren. Ihr Haar war schulterlang und schwarz. Sie und der Mann unterhielten sich angeregt, während die beiden Krieger – offensichtlich eine Art Ehrenwache – zwei Schritt Abstand zu ihnen hielten und schwiegen.
Torian starrte ihnen nach, bis sie den Hof überquert hatten und aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Behutsam schob er die Tür wieder zu, wich in den Gang zurück und drehte sich zu Garth herum.
Das Gesicht des Diebes hatte alle Farbe verloren. Seine Pupillen waren unnatürlich geweitet. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wohl, damit Torian nicht sehen sollte, wie stark seine Hände zitterten.
»Was bedeutet das, Torian?« fragte er flüsternd. »Wo... wo kommen diese Leute her? Und diese Festung... die... die Mauer ist... ist vollkommen intakt.«
Torian nickte. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wußte die Antwort — ebenso wie Garth. Aber so wie er weigerte er sich einfach, sie zu akzeptieren.
»Vor allem müssen wir hier heraus«, erklärte er unsicher, ohne direkt auf Garth’ Worte zu antworten. »Sie werden uns entdecken, wenn wir noch lange hierbleiben.« Wieder sah er zurück, und für einen Moment bildete er sich fast ein, ein leises, kratzendes Geräusch zu hören: das Schaben von Metall über Stein.