Er bückte sich nach einem morschen Holzstück und schleuderte es auf die Wiese hinaus. Im gleichen Moment, in dem es die Spitzen der Halme berührte, erwachten diese erneut zu dämonischem Leben, verwandelten sich in peitschende Schlangenleiber aus dünnem Stahl und kamen ebenso schnell wieder zur Ruhe, als sie merkten, daß sie es mit keinem lebenden Wesen zu tun hatten. Torian zweifelte nicht mehr daran, daß ihnen eine eigene, unbegreifliche Form von Intelligenz innewohnte. Zumindest Empfinden.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schaute sich um, doch sein Blick reichte nur wenige Schritte weit, dann wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
»Es ist überhaupt nichts passiert, seit wir hier sind?« wunderte er sich.
»Solange ich wach war, nicht das geringste. Warum? Ist dir langweilig?«
»Ich traue dem Frieden nicht«, erwiderte Torian ruhig, den Spott in ihrer Stimme bewußt überhörend. Sie war nervöser, als sie zugeben wollte, ihr aufgesetzter Hohn nur ein Ventil für ihre überreizten Nerven.
Torian zog eine Grimasse. »Erst dieses Monstrum im Stollen, dann das Feld — und dann das hier? Irgend etwas stimmt nicht.« Torian schüttelte den Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Wer einfaches Gras in eine tödliche Falle verwandeln kann, der dürfte dies auch bei Bäumen und anderen Pflanzen schaffen.«
»Wer sagt dir, daß es einfaches Gras war?« versetzte Shyleen spöttisch, winkte aber rasch ab, als er widersprechen wollte. »Du hast recht«, gab sie zu. »Offenbar hat er es aber nicht getan. Vielleicht liebt unser Freund die Abwechslung. Und noch sind wir lange nicht aus dem Wald wieder heraus. Lassen wir uns überraschen.«
Torian setzte zu einer scharfen Entgegnung an, beließ es dann aber bei einem Achselzucken. Noch einmal suchte er mit seinen Blicken die Umgebung ab. Er glaubte, Bewegungen im Dunkel um sie herum zu erkennen, Alptraumgestalten, die aus ihrem Versteck aus Schatten und Finsternis heraus ihr Spiel mit ihm trieben. Aber er wußte, daß es nur Einbildung war, seine Nerven ihm etwas vorgaukelten, und so wandte er sich nach ein paar Sekunden wieder Shyleen zu. Er durfte sich nicht selbst verrückt machen und Gefahren sehen, wo – zumindest im Augenblick noch – keine waren.
»Unterhalten wir uns weiter darüber, wenn du ausgeruht bist. Versuch noch ein paar Stunden zu schlafen«, riet er ihr sanft. »Ich werde solange aufpassen.«
»Ich bin nicht müde«, erwiderte sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Natürlich nicht. Deshalb siehst du auch aus wie das blühende Leben.« Torian machte eine ärgerliche Handbewegung. »Wir wissen alle, wie stark du bist, Shyleen. Du mußt weder mir noch dir selbst irgend etwas beweisen. Also hör endlich auf, deine Kräfte so unnötig zu vergeuden.«
Shyleen blickte zu dem schlafenden Garth hinüber, ehe sie antwortete. »Darum geht es nicht. Ich werde nachher schlafen. Jetzt bin ich ganz froh, daß wir einmal für eine Weile ungestört sind. Ich muß mit dir reden. Allein.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum du das alles tust.«
Verwirrt hob Torian den Kopf. »Was?«
»Stell dich doch nicht dümmer, als du sowieso bist«, entgeg-nete Shyleen ärgerlich. »Du weißt genau, was ich meine. Du hast mehr als einmal dein Leben riskiert, um mich zu diesem Tempel zu begleiten, und die Chancen, daß wir die nächsten Tage überleben, sind nicht gerade hoch. Also, warum?«
»Ich habe dich nicht allein begleitet«, antwortete Torian ausweichend.
»Aber Garth war von Anfang an dagegen. Er hätte mich allein reiten lassen, wenn du ihn nicht umgestimmt hättest. Eigentlich seltsam. Umgekehrt hätte ich es besser verstanden.«
»Was willst du damit sagen?« fragte er.
Zu seiner Überraschung begann Shyleen zu lachen, und einen Moment später kam er sich ebenfalls albern vor, daß sie wie kleine Kinder um den heißen Brei herumredeten. »Es muß dir wirklich Spaß machen, dich selbst zum Narren zu machen. Du weißt genau, was Garth für mich empfindet. Wenn er mir helfen würde, weil er bis über beide Ohren verliebt ist, würde ich es begreifen. Aber warum du?« Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn abschätzend an. »Ich bin nicht sicher, ob du mich wirklich haßt, Torian Carr Conn, aber ich bin sehr sicher, daß du mich nicht liebst. Also warum das alles hier? Ist es die Unsterblichkeit?«
Torian schwieg und starrte zu Boden. Merkte sie denn nicht, daß er nicht darüber sprechen wollte? Sie hatte recht, dieses Gespräch war nötig, doch nicht jetzt und nicht hier. Sie hatte ihm mit ihrer Frage im unpassendsten Moment überrascht. Er war noch immer erschöpft, und das Denken fiel ihm schwer, doch das war es nicht allein.
Die Wahrheit war ganz einfach die, daß er die Antwort nicht wußte.
Er hatte sich die Frage selbst schon gestellt, mehr als einmal, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Es wäre einfach, sich damit herauszureden, daß das Geheimnis des ewigen Lebens jedes Risiko wert wäre. Er könnte vorgeben, daß es ihm um Kelysar gegangen sei, oder er könnte das Gespräch mit der Behauptung, es nur um seiner Freundschaft zu Garth willen getan zu haben, abblocken – aber nichts davon wäre der Wahrheit auch nur nahegekommen. Letzteres vielleicht noch am ehesten. Aber er wußte, daß sie nur mitleidig lächeln würde, wenn er das sagte.
»Nein«, fuhr Shyleen fort, als er nicht antwortete. »Dir geht es nicht um die Unsterblichkeit. Du wußtest mehr als vier Jahre lang, welches Geheimnis der Tempel verbirgt, und du hast nicht einmal versucht, ihn zu erreichen. Es ist meinetwegen.«
Torian fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Es war erst einen halben Tag her, daß er zuletzt getrunken hatte, aber sein Mund fühlte sich trocken an, die Lippen waren rauh. Er setzte sich ein wenig bequemer hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Shyleen würde nicht eher Ruhe geben, bis sie eine Antwort bekommen hätte. Vielleicht ging es ihr nicht einmal darum, die Wahrheit zu erfahren, sondern sie wollte etwas ganz Bestimmtes hören, nämlich das, was sie für die Wahrheit hielt. »Du hättest es umgekehrt nicht getan, oder?« fragte er nach einer Weile.
Sie seufzte.
»Du hast ein bewundernswertes Talent, jeder klaren Frage mit einer Gegenfrage zu begegnen«, warf sie ihm vor. Es klang nicht ärgerlich, eher amüsant. »Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle gehandelt hätte. Wahrscheinlich genauso wie du. Aber hier steht auch nicht zur Debatte, was ich getan hätte.«
Höchst verwundert hob Torian die Augenbrauen, was Shyleen noch einmal flüchtig lächeln ließ.
»Du hältst mich wohl für eine gefühllose Bestie, wie? Aber das bin ich nicht, Torian. Du vergißt nur ständig mein Alter. Ich bin mehr als zehnmal so alt wie du. Ich habe ganze Generationen überlebt.«
»Und dabei das Lieben verlernt?« fragte er. Die Worte kamen fast ohne sein Zutun über seine Lippen, und er war beinahe selbst überrascht, aber Shyleen antwortete ganz ruhig:
»Nein. Aber ich habe miterlebt, wie alle Menschen, die mir etwas bedeutet haben, neben mir gealtert und schließlich gestorben sind. Ich habe geliebt, Torian Carr Conn, öfter und heftiger und tiefer, als du dir auch nur vorzustellen vermagst. Aber sie sind alle gestorben, einer nach dem anderen. Glaubst du, das hätte keine Spuren hinterlassen?« Sie lächelte bitter. »Du denkst, ich würde die Menschen verachten, aber das stimmt nicht. Ich habe mich selbst dazu erzogen, den Menschen gleichgültig gegenüberzustehen, weil jedes Gefühl ihnen gegenüber nur neuen Schmerz geboren hätte.«
Torian schwieg auch jetzt noch. Er begann zu ahnen, worauf sie hinauswollte, aber etwas in ihm weigerte sich immer noch beharrlich, ernsthaft darüber nachzudenken. Zum Teufel, er hatte selbst genügend Probleme. Es war einfacher, stur an einer gefaßten Meinung festzuhalten, als seine Ansichten zu ändern. Er wünschte, er hätte sich dieses Gespräch erst gar nicht auf zwingen lassen. Er hatte Angst vor dem, was am Ende dabei herauskommen mochte. Vielleicht, weil er es eigentlich schon wußte. Und nicht erst seit jetzt.