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»Ich habe alle Gefühle kennengelernt«, sprach Shyleen weiter. »Alle Gefühle eines Lebens, und das fast ein dutzendmal. Die Unsterblichkeit ist nicht ganz so erstrebenswert, wie du vielleicht glaubst. Und du bekommst sie nicht geschenkt, Torian. Sie kann zu einem Fluch werden, einer Strafe, denn sie erhält zwar den Körper jung, aber sie tötet deine Seele, wenn du nicht aufpaßt. Ein Unsterblicher ist einsamer. Vielleicht habe ich mich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu sehr hinter einer Mauer versteckt, habe vergessen, zu leben. Das hat sich erst geändert, als ich euch traf. Es ist nicht schön, immer allein zu sein.«

»So?« murmelte Torian widerwillig. »Wenn du jetzt noch erzählst, daß du in Liebe zu uns entbrannt wärest, fange ich zu weinen an.« Er war absichtlich grob, und er spürte, daß Shyleen das ganz genau erkannte. Verdammt, es war einfach müßig, mit jemandem zu streiten, der über eine zwölfmal längere Lebenserfahrung verfügte.

»Idiot«, sagte Shyleen, aber sie lächelte dabei. »Du begreifst gar nichts — oder willst nichts begreifen. Ich spreche von Freundschaft, nicht von Liebe, aber ich frage mich allmählich ernsthaft, was ich ausgerechnet an einem Ekel wie dir mag. Also gut, lassen wir das.« Ihre Stimme klang plötzlich hart, spröde. Die seltene Spur von Gefühl, die sich zuvor darin gezeigt hatte, war verschwunden.

»Wenn es uns gelingt, den Tempel zu erreichen, werden sich unsere Wege anschließend trennen. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie ihr an meiner Seite altert. Das war alles, was ich dir sagen wollte.« Sie wandte den Kopf demonstrativ in eine andere Richtung.

Nein, dachte Torian. Das war nicht alles. Er hatte die Bitte, die sich hinter ihren Worten verbarg, sehr wohl verstanden. Und er spürte auch, daß er ihr sehr weh getan hatte.

Erst jetzt wurde er sich der Folgen seines Verhaltens ganz bewußt, und seine Worte taten ihm leid. Sie hatte ihm vertraut und die Maske, hinter der sie ihr wahres Ich verbarg, weiter als jemals zuvor freiwillig gelüftet, aber er hatte sie vor den Kopf gestoßen, anstatt ihr zu helfen. Dabei wäre es so leicht gewesen! Sie hatte ihm beide Hände entgegengestreckt – er hätte sie nur zu ergreifen brauchen!

In letzter Zeit entwickelte er wirklich ein beachtliches Talent, im richtigen Moment das Falsche zu tun.

Shyleen gab sich, als hätte sie das Interesse an ihm verloren, aber er wußte, daß dem nicht so war. Sie hoffte, daß er etwas sagte. Es brauchte nicht einmal eine Entschuldigung zu sein, ein freundliches Wort, ein Lächeln oder eine Geste der Freundschaft würde bereits reichen.

Aber er tat nichts dergleichen, sondern blieb nur reglos und stumm sitzen. Es verschaffte ihm fast ein absurdes Gefühl der Befriedigung, an dieser so stolzen, unnahbaren Frau eine Schwäche entdeckt und ihr seine momentane Überlegenheit deutlich vor Augen geführt zu haben, und er haßte sich selbst dafür. Vielleicht verspielte er gerade die für lange Zeit letzte Chance, die wahre Shyleen kennenzulernen.

Einige Minuten saßen sie sich noch schweigend gegenüber, einer dem Blick des anderen fast krampfartig ausweichend, dann streckte sich Shyleen mit einem schwer zu definierenden Laut auf dem Boden aus und versuchte, eine einigermaßen bequeme Lage zum Schlafen zu finden.

Beinahe gegen seinen Willen wiederholte Torian in Gedanken ihre letzten Worte. Sie wollte sich nicht wirklich von ihm trennen, und doch zweifelte er nicht daran, daß sie es tun würde, wenn sie den Tempel erreicht hatten. Aber das war es nicht, was sie mit ihren Worten gemeint hatte. Ohne es ausgesprochen zu haben, hoffte sie, daß Garth und er sich ebenfalls für die Unsterblichkeit entscheiden würden.

Ewiges Leben...

Torian schauderte. Die Unsterblichkeit. Bisher war das nichts als ein leerer Begriff für ihn gewesen, und der Gedanke an Menschen, die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende lebten, hatte in ihm höchstens ein Gefühl der Unbehaglichkeit hervorgerufen.

Und doch ...

Die Unsterblichkeit war ein uralter Menschheitstraum, dessen Verlockung auch er spürte. Torian war sich nicht sicher, ob er ihm wirklich widerstehen würde, überhaupt widerstehen wollte. Wie jeden Menschen erfüllte der Gedanke an den Tod auch ihn mit kreatürlicher Angst. Bei dem gefährlichen Leben, das er führte, hatte er sich oft genug einzureden versucht, daß es anders war, daß er den Tod als ganz natürlichen Abschluß des Lebens betrachtete. Aber das war nicht mehr als eine Selbsttäuschung gewesen. Vielleicht fürchtete er den Tod selbst sogar wirklich nicht allzu sehr, aber dafür das Sterben.

Aber wäre es eine Lösung, nach der Unsterblichkeit zu streben? Shyleens Worte hatten ihm deutlich gezeigt, welchen Preis er dafür zahlen müßte. Wenn der Tempel der verbotenen Träume wirklich das Geheimnis des ewigen Lebens verbarg und sie es lösen konnten, würde es seinen Körper vor dem Altern bewahren. Vor einem gewaltsamen Tod, der ihm viel wahrscheinlicher erschien als ein Dahinsiechen als zahnloser, hoffnungslos vertrottelter Greis, würde es ihn auch nicht schützen können.

Wenn, wenn, wenn, dachte Torian zornig. Noch hatten sie den Tempel längst nicht erreicht, wußten nicht einmal mit Sicherheit, ob sie nicht in Wahrheit vielleicht nur einer Legende hinterherliefen. Es war müßig, sich jetzt mit solchen Fragen zu quälen. Dafür blieb später noch genügend Zeit.

Er wurde wieder müde. Um nicht einzuschlafen, stand er auf, machte einige Lockerungsübungen und lief ein paar Schritte auf und ab. Dann hockte er sich vor Garth hin und beobachtete ihn einige Sekunden lang. Der Dieb schlief immer noch tief und fest, sein Atem ging regelmäßig und ruhig. Bis auf einige Narben waren die Verletzungen verheilt. Sein Gesicht zeigte selbst im Schlaf noch Trotz und unbeugsamen Stolz.

Torian verspürte ein kurzes, heftiges Gefühl der Zuneigung. Im Grunde war er Shyleen ziemlich ähnlich. Auch er war lange allein gewesen, hatte die Einsamkeit kennengelernt. Selbst als er sich in das scroothische Heer geflüchtet hatte, war er immer ein Außenseiter geblieben und hatte sich von den anderen abgesondert. Erst die Begegnung mit Garth hatte alles geändert. Der hünenhafte Dieb war in den wenigen Wochen ihrer Bekanntschaft wie ein Bruder für ihn geworden. Vielleicht mehr.

Aber was empfand er für Shyleen? Ärgerlich stellte Torian fest, daß er die Frage nicht los wurde, sie vielleicht verdrängen, aber nicht wirklich vergessen konnte. Liehe? Kaum. Es war keine Liebe, dessen war er sich als einziges völlig sicher. Er hatte geglaubt, Shyleen wäre unfähig, jemanden zu lieben.

Aber, dachte er, in Wahrheit war er selbst es. Er hatte geliebt, ein einziges Mal, und obwohl es erst vier Jahre zurücklag, schien es in einem anderen Leben gewesen zu sein: Lady Lyn. Sie war Kelysars Intrigen zum Opfer gefallen. Sie war nicht einmal absichtlich umgebracht worden, sondern fand den Tod durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle. Ein Pfeil, der für ihn, Torian, bestimmt war, hatte sie getötet, als sie in die Schußlinie lief. Er wußte nicht einmal, wo ihr Grab lag.

Möglicherweise, überlegte er, war das der Grund für seine sonderbare Haßliebe zu Shyleen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, weil sie ihn an Lyn erinnerte, obwohl sie ihr weder äußerlich noch charakterlich ähnelte. Auf den ersten Blick schien die beiden nichts, aber auch wirklich nichts miteinander zu verbinden. Lyn war warmherzig und sanft und fast immer fröhlich gewesen, hatte weder Shyleens Kälte, noch ihre amazonenhafte Stärke und Männlichkeit besessen. Auch in Aussehen und Verhalten waren sie grundverschieden. Und doch glaubte Torian manchmal, etwas von Lyn an Shyleen zu entdecken. Eine vertraute Geste, einen Blick ... Er wußte nicht, was es war, und im Grunde war es auch gleichgültig.

Er liebte Shyleen, weil sie ihn an Lyn erinnerte.

Und aus dem gleichen Grund haßte er sie.