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Und plötzlich glaubte er zu begreifen, was sie gemeint hatte, als sie sagte, die Unsterblichkeit könne zu einem Fluch werden.

Lyn war tot, aber Shyleen lebte. Wenn er ihr half, war es nichts weiter als ein Versuch, an ihr einen Teil der Schuldgefühle wettzumachen, die ihn seit Lyns Tod quälten.

Im gleichen Moment, in dem ihm dies bewußt wurde, haßte er sie noch mehr.

Ein leises Geräusch schreckte Torian aus seinen Grübeleien auf. Er fuhr herum und griff zum Schwert. Erst als er nur den Stoff seiner Hose zu fassen bekam, fiel ihm wieder ein, daß er die Waffe ja beim Erreichen des Waldes fallengelassen hatte. Hastig sah er sich um, fand die Klinge dicht neben Shyleen auf dem Boden liegen und hob sie auf.

Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit. Es blieb alles ruhig. Torian wußte nicht genau, was er gehört hatte, aber es hatte an das Rascheln von Laub erinnert. Er glaubte, aus den Augenwinkeln huschende Bewegungen im Unterholz wahrzunehmen, entdeckte aber nie etwas, wenn er genauer hinschaute.

Erst als sich das Geräusch nach ein paar Minuten noch nicht wiederholt hatte, ließ er das Schwert erleichtert wieder sinken. Es schien hier lange nicht geregnet zu haben, denn der Boden war trocken, und es war so gut wie unmöglich, sich lautlos über Laub und trockene Zweige an sie heranzuschleichen.

Trotzdem legte sich seine Unruhe nicht völlig. Er vermochte sich immer noch nicht richtig vorzustellen, daß dieser Wald wirklich so harmlos war, wie es den Anschein hatte, nicht in diesem Tal und nach dem, was sie bislang hier erlebt hatten.

Aber all seinen Befürchtungen zum Trotz passierte nichts. So wie sich das Gras erst bei Einbruch der Dämmerung verwandelt hatte, würde ihnen der Wald sein wahres Gesicht vielleicht erst im Morgengrauen zeigen, dachte er sarkastisch, aber auch daran wollte er nicht recht glauben.

Ereignislos verstrichen die Minuten und Stunden. Immer häufiger mußte Torian gähnen. Wenn seine Wunden auch verheilt waren, hatten sie ihn doch geschwächt; mehr, als er anfangs angenommen hatte. Sein Körper brauchte Ruhe und Schlaf, um sich zu erholen, und so trat er schließlich zu Garth und rüttelte ihn an der Schulter.

Verwirrt schlug der Dieb die Augen auf, blinzelte ein paarmal und strich sich mit der Hand übers Gesicht, als wolle er seine Benommenheit fortwischen. »Was’n los?« nuschelte er mit vom Schlaf belegter Stimme.

»Du bist dran mit Wacheschieben«, eröffnete ihm Torian. Er wartete ein paar Sekunden, und erst als er den Ausdruck jähen Schreckens im Gesicht des Diebes sah, fügte er mit einem flüchtigen Grinsen hinzu: »Und frag mich nicht, was hier passiert ist.«

»Mach’ ich nicht«, versprach Garth. »Was ist passiert? Wo sind ... deine Verletzungen geblieben!?«

Torian seufzte. »Darüber habe ich mit Shyleen schon erfolglos diskutiert. Unsere Wunden sind eben verheilt, basta.«

»Aber –«

»Du hast ja jetzt genug Zeit darüber nachzugrübeln«, unterbrach Torian. »Wenn du eine Lösung findest, dann sag mir Bescheid. Ach ja, bei Tagesanbruch sollten wir weiterziehen. Wäre nicht schlecht, wenn du ein vernünftiges Frühstück organisieren könntest. Gute Nacht.«

Er drückte Garth das Schwert in die Hand und amüsierte sich noch einen Moment über dessen verdutztes Gesicht. Dann raffte er etwas Laub zu einem halbwegs bequemen Lager zusammen und streckte sich darauf aus.

Es dauerte nur Sekunden, bis er eingeschlafen war. Der zweite Schlaf in dieser Nacht war frei von Alpträumen; aber kaum erfrischender als der erste. Als Garth ihn weckte, hatte er das Gefühl, gerade erst vor ein paar Minuten die Augen geschlossen zu haben, so müde fühlte er sich noch immer. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und in seinem Mund bemerkte er einen sehr schlechten, trockenen Geschmack. Seine Augen brannten, als hätte er die Nacht in einem kleinen, verräucherten Raum zugebracht, und nicht unter freiem Himmel. Die Sonne ging schon über den Bergen auf, und selbst hier unten im Wald war bereits die Wärme des kommenden Tages zu spüren. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft, und die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse vom vergangenen Abend war noch überdeutlich in seinem Gedächtnis. Die scheinbare Friedlichkeit seiner Umgebung nahm den Bildern nichts von ihrem Schrecken; ganz im Gegenteil.

Torian verscheuchte den Gedanken, stand auf und klopfte sich Schmutz und Laub aus der Kleidung. »Was gibt es zum Frühstück?« fragte er ironisch.

»Siehst du doch«, erwiderte Garth, mit todernstem Gesicht, aber im gleichen Tonfall. »Jede Köstlichkeit, die dein Herz begehrt, o großer Meister.« Er machte eine weit ausladende Bewegung mit der Linken. »Ihr habt die Wahl, Herr – zwischen Laub, Laub oder Laub. Ihr könnt aber auch Laub haben, wenn Euch Laub nicht schmeckt. Mehr habe ich nicht gefunden.«

Torian lächelte pflichtschuldig, verzichtete aber auf eine Antwort. Er sah kurz zu Shyleen hinüber, doch sie wich seinem Blick aus. Garth’ ohnehin etwas lahme Witzigkeit schien an diesem Morgen noch weniger bei ihr zu verfangen als sonst. »Dann nehme ich Laub«, sagte er. »Aber nicht, daß du mir zu viel Laub hineintust.«

Er drohte Garth mit dem Zeigefinger und drehte sich um. Er fühlte sich mit jedem Augenblick frischer. Die bleierne Schwere wich rasch aus seinen Gliedern, und die frische Luft schuf eine lang vermißte Klarheit hinter seiner Stirn. Der Wald kam auch ihm jetzt nicht mehr so düster und bedrohlich vor wie in der Nacht. Er unterschied sich in nichts von Hunderten anderen Wäldern, in denen er gewesen war, und er hatte auch nichts von der stummen Feindseligkeit mehr an sich, die er erwartet hatte. Vereinzelt zwischen den Blättern hereinfallende Sonnenstrahlen malten helle Flecken auf den Boden und die Büsche. Das Unterholz wucherte nicht besonders dicht; obwohl nirgendwo ein Weg zu sehen war, würde es sie beim Gehen kaum behindern. Und doch – oder vielleicht gerade deswegen – blieb Torian mißtrauisch. Dieser Wald war ihm eine Spur zu einladend.

Er schaute in die andere Richtung, und sein Herz schlug unwillkürlich ein wenig schneller. Aber der Anblick war von fast enttäuschender Normalität: Das Gras hatte seinen metallischen Glanz verloren, die Halme sahen jetzt wieder wie ganz normale Pflanzen aus. Nichts, aber auch gar nichts, erinnerte mehr an den Alptraum vom vergangenen Abend; die Wiese war eben eine Wiese, und nicht mehr. Trotzdem fühlte sich Torian nicht unbedingt wohl bei dem Gedanken, noch einmal durch dieses Gras gehen zu müssen.

»Worauf warten wir noch?« drängte Shyleen. »Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?«

Torian deutete auf die Grasebene hinaus. »Warum gehst du nicht vor?« fragte er.

Shyleen setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, preßte aber dann nur die Lippen aufeinander und ballte stumm die Faust. Dann drehte sie sich abrupt um.

»Marschieren wir am Waldrand entlang«, schlug sie vor, ohne ihn oder Garth anzublicken. »Sobald es dämmert, könnten wir unter den Bäumen rasten. Hier am Rand scheint es harmlos zu sein.«

»Ja, so harmlos, daß wir höchstens verhungern und verdursten würden«, entgegnete Garth trocken.

Torian widersprach nicht mehr, und so brachen sie kurz darauf auf. Sie hatten jeder recht, auf seine Weise, aber streiten allein brachte sie nicht weiter; und schon gar nicht in die Nähe des Tempels — falls er überhaupt existierte. Das einzige, was sie tun konnten, war, sich weiter auf ihr Glück, auf die Schärfe seines Schwertes, auf die Kraft von Garth’ Muskeln und – vielleicht –auf Shyleens magische Fähigkeiten zu verlassen.

Garth ging voraus, doch er brauchte sein Schwert kaum einzusetzen, um sich einen Weg zu bahnen; sie hatten die Nacht recht nahe am Rand des Waldes verbracht, aber der Busch wurde auch nicht dichter, als sie tiefer in ihn eindrangen. Es gab kaum Unterholz, und schon nach wenigen Augenblicken stießen sie auf einen schmalen Tierwechsel, dem sie folgten, so daß sie noch leichter vorankamen. Vogelgezwitscher war zu vernehmen, das leise Flüstern des Windes in den Zweigen und das Rascheln des Laubs unter ihren Füßen. Weder von Raubtieren, noch von irgendwelchen anderen Feinden war etwas zu hören oder zu sehen. Einmal scheuchten sie einen Hasen auf, der sich im Unterholz verbarg und ohne sonderliche Hast vor ihnen davonhop-pelte; nicht floh, wie Torian sehr wohl registrierte. Das Tier schien Menschen nicht als Feinde zu betrachten. Er begann sich zu fragen, ob es hier überhaupt Menschen gab.