Torian weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Mit weitausholenden Schritten ging er los, dem gewundenen Band des Flusses folgend. Jede Minute konnte kostbar sein. Er hatte bereits fast einen ganzen Tag verloren und würde wahrscheinlich weitere Stunden brauchen, um die Brücke zu erreichen.
Das war der letzte klare Gedanke, den er faßte.
Eine gigantische schwarze Hand schien nach seinem Gehirn zu greifen und fegte sein Denken mit feurigen Fingern hinweg. Dann sah er...
Es war eine Vision, und er war sich dieses Umstandes auf einer unbewußten Ebene seines Denkens völlig bewußt, und trotzdem war sie so echt, daß er glaubte, die Realität zu erleben. Er sah eine Staat, aber eine Stadt, wie er sie noch niemals zuvor erblickt hatte. Die Gebäude schimmerten silbern. Sie waren von unvergleichlicher Feinheit, schmal und hoch, mit unzähligen Erkern und kristallenen Türmchen. Es gab Parks mit Teichen und munter plätschernden Springbrunnen, und Blumen von einer Pracht und Farbenvielfalt, die ihresgleichen suchte.
Dann verblaßte das Bild, als lege sich ein milchiger Schleier darüber. Enttäuscht stöhnte Torian auf. Noch nie zuvor hatte er einen Ort von solcher Schönheit gesehen, und er wußte, daß er dorthin gelangen mußte, koste es, was es wolle. Die Vision grub sich mit unzähligen winzigen Krallen in sein Gehirn und verdrängte jeden anderen Gedanken daraus. Mit einem Schlag wurde alles andere bedeutungslos, er vergaß alles, woran er zuvor gedacht hatte. Nur noch die Stadt in ihrer unvergleichlichen Pracht existierte – der Ort, den er unbewußt sein ganzes Leben lang gesucht und nach dem er sich all die Jahre hindurch gesehnt hatte; der Ort ewigen Friedens, der die Antworten auf alle Fragen seines Lebens für ihn bereithielt. Keine Anstrengung würde zu groß sein, um die Stadt zu erreichen.
Torian kehrte dem Fluß den Rücken zu und begann zu laufen; rannte von brennender Sehnsucht getrieben durch den Wald, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen, rannte stundenlang, ohne daß ihm das Verstreichen der Zeit bewußt wurde, rannte immer weiter, von einer lautlosen Stimme geführt, ohne Schwäche oder Erschöpfung zu spüren, rannte, rannte, rannte...
Irgendwann ließ er den Wald hinter sich. Die lockende Stimme in seinem Kopf verstummte. Er hatte sein Ziel erreicht. Keuchend blieb er stehen. Vor ihm erhob sich inmitten von sanft ansteigenden, mit einem Blumenteppich bedeckten Hügeln die Stadt.
Und ihre wirkliche Schönheit übertraf die Vision noch um ein Vielfaches.
Der Anblick der filigranen, zerbrechlich anmutenden Türme und kunstvoll ineinander verschachtelten Häuser raubte Torian den Atem. Mit ihren gepflegten Parks, den Teichen und unzähligen Springbrunnen wirkte die Stadt wie gemalt, als wäre sie ein gestaltgewordener Traum, der verblassen mußte, sobald man nach ihm zu greifen versuchte. Kein Baumeister konnte eine Stadt wie diese entwerfen, die Arbeit von Jahrtausenden würde nicht ausreichen, auch nur einen einzigen Straßenzug fertigzustellen. Es konnte sich nur um einen Traum handeln. Und doch war die Stadt real. Torian versuchte die Vision wegzublinzeln, aber der unglaubliche Anblick blieb.
Langsam, wie in Trance, trat er näher an die Häuser heran. Alles, was er zuvor erlebt hatte, kam ihm wie ein ferner, verschwommener Schatten vor, ohne jede Bedeutung an diesem Ort des Friedens. Er konnte nicht erkennen, aus welchem Material die Gebäude erbaut waren, jedenfalls nicht aus Stein. Mal schimmerten sie wie polierter Marmor, dann wieder wie blankes Silber und gelegentlich blitzten sie in allen Farben des Regenbogens, so daß es aussah, als handele es sich um einen einzigen, riesigen Edelstein. Fast schien es, als wäre die Stadt ganz aus Glas errichtet worden; kunstvoll geschliffenes Glas, das sein Aussehen je nach Lichteinfall änderte. Vorsichtig ging er weiter. Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie noch beeindruckender, noch phantastischer.
Sein erster Eindruck bestätigte sich. Die Häuser und Türme schimmerten tatsächlich gläsern, wenngleich sie undurchsichtig waren und ihre Farbe ständig zu ändern schienen. Die unglaublich zarten Türme und kühn geschwungenen Brücken schienen der Schwerkraft zu trotzen. Sie machten den Eindruck, als müßten sie beim leichtesten Lufthauch in sich zusammenbrechen, doch als Torian mit der Hand über eine der glasierten Wände strich, fühlte sie sich kalt und ungemein hart an.
Und doch stimmte etwas nicht...
Torian brauchte Minuten, um sich aus dem Bann zu lösen, in den ihn der Anblick der bizarren Bauwerke geschlagen hatte. Die paradiesische Umgebung machte es ihm schwer, an irgendeine Gefahr zu denken. Nur langsam, fast widerwillig begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Alle Schönheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser Ort tot war, nicht mehr als eine Geisterstadt. Er streifte durch die Straßen, ohne irgendwo auf eine Menschen- oder was-auch-immer-für-eine-Seele zu treffen. Keine Vogelstimme war zu hören, keinerlei Schmutz auf den Straßen zu sehen, kein herangewehtes Laub; auf den Mauervorsprüngen lag nicht einmal Staub. Abgesehen vom leisen Plätschern eines Springbrunnens, waren seine eigenen, hohl von den Wänden widerhallenden Schritte das einzige Geräusch, das die geisterhafte Stille durchbrach.
Und noch etwas fiel ihm auf. Einige der Türme ragten Hunderte von Metern hoch in den Himmel, es schien einfach unmöglich, daß er sie nicht zuvor schon gesehen hatte, als er vom Ende des Stollens aus den größten Teil des Tals überblicken konnte.
Auch die Lösung dieses Problems verschob er auf später. Es war sinnlos, sich in einer Welt, deren Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten er nicht einmal in Ansätzen verstand, mit Fragen zu quälen, auf die er doch keine Antworten fand. Magie stand außerhalb der menschlichen Logik; sie ermöglichte vieles, das den normalen Naturgesetzen Hohn zu sprechen schien.
Vor ihm erstreckte sich eine von funkelnden Arkaden überdachte Gasse. Es gab zahlreiche Eingänge, und er trat willkürlich auf einen zu. Eine Tür war nicht vorhanden, nur eine rechteckige Öffnung, die ins Innere des Gebäudes führte. Er blickte in einen großen, sonnendurchfluteten Raum, der genauso leer war wie der ganze Stadtteil, den er bislang durchstreift hatte. Es fehlte jegliche Einrichtung, einfach alles, bis auf eine Treppe, die sich im Hintergrund des Raumes in bizarrer Form in die Höhe wand. Torian lauschte, und erst als sich nichts regte, stieg er vorsichtig die Stufen hinauf. Sie führten in ein weiteres Zimmer, das ebenfalls ein ganzes Stockwerk ausfüllte und ebenso leer war, wie das untere. Nur gab es hier zusätzlich noch Durchgänge zu den Nachbarhäusern. Das gleiche Bild bot sich mit jedem Stockwerk, das er höher stieg, nur gab es gelegentlich noch Öffnungen zu den unzähligen Brücken, die auch weiter entfernt liegende Straßenzüge miteinander verbanden. Je höher er kam, desto mehr wurde Torian erst bewußt, welch ein gigantisches Labyrinth diese Stadt bildete.
Eine nahezu ideale Falle ...
Die Stadt schien unbewohnt zu sein, aber das mußte nicht viel zu bedeuten haben. Er hatte erst einen winzigen Ausschnitt in Augenschein genommen. Hier konnte sich mühelos eine ganze Armee verbergen.
Torian überlegte, ob er umkehren sollte, da es hier ganz offenbar nichts gab, das für ihn von Interesse war. Er hatte wahrlich dringendere Probleme, als sich ein paar leere Häuser anzusehen; mochte die Stadt auch noch so schön sein. Aber es mußte irgend etwas Besonderes hier geben, schließlich war er auf nicht gerade normale Art in die Stadt gelockt worden.
Die Neugier war jedoch nicht der einzige Grund für seinen Entschluß, sich noch weiter umzuschauen. Er war blindlings durch den Wald gerannt, ohne im geringsten auf seine Umgebung zu achten. Torian wußte nicht einmal, in welche Richtung er sich wenden mußte. Von einem der Türme aus mußte der Fluß zu sehen sein.