Er trat in eines der Nebenhäuser und von dort in ein weiteres. Sie glichen exakt dem ersten, und das Bild änderte sich auch nicht, als er auf einer Brücke eine breite Allee überquerte und in eines der Häuser auf der anderen Straßenseite eindrang. Nirgendwo entdeckte er Spuren von Leben. Die Bauwerke waren nichts weiter als eine zwar prachtvolle und wunderbar anzusehende, aber nichtsdestoweniger leere Fassade.
Nach ein paar Minuten erreichte er ein Gebäude, das in einen hochaufragenden Turm überging. Im Inneren führte eine Treppe in die Höhe. Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.
Einige hundert Treppenstufen höher war er nicht mehr ganz so entschlossen. Seine Füße schmerzten, und jede Stufe schien beschwerlicher als die vorherige zu sein. Trotzdem stieg er weiter und freundete sich immer weniger mit dem Gedanken an, die Treppe in umgekehrter Richtung noch einmal bewältigen zu müssen. Es schien nichts anderes als die Stufen und die Wände des engen Schachtes mehr zu geben. Sehsamerweise war es auch hier hell, obwohl die Wände immer noch undurchsichtig waren.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, in der er sich mehr als einmal ernsthaft die Frage gestellt hatte, ob diese Treppe überhaupt jemals irgendwo enden würde, kam er zu einer schmalen Plattform an der Spitze des Turmes. Bislang hatte sich Torian immer für schwindelfrei gehalten. Aber bislang hatte er auch noch nie auf einem mehr als zweihundert Meter hohen Turm gestanden. Schmerzlich wurde ihm bewußt, daß es auch in dieser Hinsicht für jeden Menschen eine Grenze seiner Unempfindlichkeit gab. Die seine wurde hier um ein gutes Stück überschritten.
Es war bei weitem nicht der einzige Turm, der diese Höhe erreichte, nicht einmal der höchste. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte gleichhohe oder noch höhere Gebilde ragten um ihn herum auf. Ein Großteil der Gebäude aber schien sich unter ihm wie winzige Spielzeughäuser flach an den Boden zu pressen. Der Anblick übertraf alles, was er jemals gesehen hatte, aber dennoch hielt sich seine zuvor noch fast grenzenlose Bewunderung für die unbekannten Erbauer dieser Stadt jetzt in Grenzen.
In sehr engen Grenzen.
Torian glaubte, jeden leichten Luftzug wie eine Orkanbö zu spüren. Der Turm schien unter ihm zu zittern und im Wind hin und her zu schwingen, und jede Bewegung des Gerüsts übertrug sich vielfach verstärkt auf seinen Körper. Mit dem rein gefühlsmäßigen Teil seines Bewußtseins, gegen den jede logische Überlegung machtlos war, bildete er sich ein, die ganze Konstruktion würde sich vornüberneigen und müßte jeden Augenblick abknicken oder in sich zusammenbrechen. Himmel und Erde verschmolzen in immer schnelleren Drehungen um ihn herum zu einer Einheit. Minutenlang schloß er von Schwindel geplagt die Augen, aber es half nicht viel, denn immer noch spürte er die Schwingungen des gläsernen Materials unter seinen Füßen.
Schließlich mußte er sich fast gewaltsam zwingen, die Augen wieder zu öffnen, und sich umzusehen. Die Stadt wurde rundum vom Wald eingeschlossen, aber von einem Wald, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Torian keuchte, schloß die Augen und riß sie nach ein paar Sekunden wieder auf.
Der Anblick blieb gleich.
Er hatte vom Ende des Stollens aus erkennen können, daß der Waldstreifen nicht breiter als zehn, zwölf Meilen war. Nun aber war alles verschwunden, die flachen Ebenen, die Berge, die das ganze Tal einschlössen, selbst der Fluß, an dessen Ufer er noch vor wenigen Stunden gestanden hatte. Es gab nur noch ein scheinbar unendliches Meer von Baumkronen – und die Stadt. Torians Blick blieb an einer gewaltigen Kuppel hängen, die nur wenige Straßenzüge von dem Turm entfernt aufragte. Inmitten der filigranen Bauwerke wirkte sie so deplaziert, wie es überhaupt nur ging; eine glatte, gut hundert Meter durchmessende Halbkugel ohne irgendwelche Verzierungen oder Unebenheiten. Und sie bestand auch nicht aus dem kristallartigen Material, aus dem die ganze übrige Stadt erbaut zu sein schien, sondern aus tiefer, lichtschluckender Schwärze, als wäre sie nicht mehr als ein Loch in der Wirklichkeit. Jemand schien einen riesigen schwarzen Ball in zwei Hälften zersägt und die eine davon über einen Teil der Stadt gestülpt zu haben.
Im nächsten Augenblick flossen die Konturen der Gebäude vor Torians Augen wieder ineinander, und bevor das Schwindelgefühl übermächtig werden konnte, wandte er sich hastig um und kletterte in den Treppenschacht zurück. Wieder kam es ihm wie Ewigkeiten vor, bis er das untere Ende der Treppe erreichte. Im nachhinein wußte er kaum noch, wie er es überhaupt geschafft hatte. Seine Füße schienen sich in unförmige Klumpen verwandelt zu haben und seine Beinmuskel zu verkrampften, knotigen Strängen geworden zu sein, die seinen Körper bei jeder Bewegung mit einem Geflecht feuriger Schmerzen durchzogen.
Er gönnte sich einige Minuten Rast, um wieder zur Ruhe zu kommen und seine Muskeln zu entspannen, bevor er sich auf den Weg zur Kuppel machte. Vielleicht würde er dort Antworten auf einige der Fragen finden, die ihn am meisten quälten.
Trotz des verwirrenden Labyrinths an Straßen, Gassen und Abzweigungen war der Weg nicht zu verfehlen. Er brauchte die Straße direkt vor dem Turm nur einige Dutzend Schritte weit entlangzugehen, dann sah er die gigantische Kuppel bereits über die Dächer der anderen Gebäude hinweg, und nach kaum hundert weiteren Schritten hatte er sie erreicht. Sie schien wie ein Berg vor ihm aufzuragen, und als er den Kopf in den Nacken legte, verschmolz der schwarze Granit irgendwo über ihm mit dem Blau des Himmels.
Tief in seinem Inneren meldete sich eine leise, warnende Stimme. Diese ganze Stadt war sonderbar unwirklich, aber die Kuppel war mehr als das – sie war fremd, wenn auch auf eine ganz andere Art als die übrigen Gebäude. Sie wirkten fremd durch ihre feine Bauweise, ihre Verspieltheit, den unglaublichen Reichtum an Details, die Kuppel hingegen durch ihre Schlichtheit und bloße Existenz. In ihrer unmittelbaren Nähe schien es merklich kühler geworden zu sein, als atmete das schwarze Gestein Kälte und Gefahr aus.
Im ersten Moment wäre Torian am liebsten wirklich umgekehrt, aber dann siegte seine Neugier. Er ignorierte seine Angst und die warnende Stimme in seinem Kopf. Langsam begann er, die Kuppel zu umrunden. Ihm fiel auf, daß sie an keines der anderen Gebäude stieß, sondern diese sich sorgsam um sie herum gruppierten, als wären sie eine Herde verängstigter Tiere, die sich schutzsuchend in ihre Nähe kauerten.
Nirgendwo schien es einen Eingang zu geben, und wenn doch, so fand er ihn nicht, nicht einmal nach zweifacher Umrundung der Kuppel. Resignierend gab Torian die Suche auf. Die Sonne begann bereits, tiefer zu sinken. Wütend trat er gegen die schwarze Wand und wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne gerissen, als er auf keinen Widerstand traf. Sein Fuß drang durch die Wand, als wäre sie gar nicht vorhanden. Torian verlor das Gleichgewicht. Er versuchte instinktiv, sich abzustützen, doch auch unter seinen Händen spürte er keinen Widerstand. Er stürzte auf die Wand zu –
- und durch sie hindurch!
Verblüfft schaute er sich um. Er befand sich in einem riesigen Raum. Es gab weder ein Fenster noch eine erkennbare Lichtquelle, und doch war es nicht dunkel. Düsteres, violettes Licht schien unmittelbar aus den schwarzen Wänden zu dringen. Die gewaltige Halle war nicht leer. In ihrer Mitte erhob sich ein schwarzer, altarähnlicher Klotz. Torian schrie vor Entsetzen auf. Wie mit gierigen Krallen griff die Angst nach ihm. Vor dem Sockel kauerte eine mehr als vierfach mannshohe Kreatur, die geradewegs einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Am ehesten ließ sie sich mit einem Drachen vergleichen, aber gegen dieses Ungetüm nahmen sich selbst die gefürchteten Eidechsen aus den Nordlanden wie harmlose Haustiere aus. Die Ähnlichkeit beschränkte sich auf ein Paar überdimensional großer Schwingen und einen weit vorgereckten Schädel, dessen aufgerissenes Maul den Blick auf zwei Reihen furchtbarer Reißzähne freigab. Der Körper war der eines Giganten aus gestaltgewordener Nacht, gespickt mit messerscharfen Klauen und hornigen Stacheln und geschützt durch schwarzglänzende Panzerplatten. Mehr als ein Dutzend meterlanger, schuppenbedeckter Tentakel schienen mitten in der Bewegung erstarrt zu sein. Jetzt durchlief ein leichtes Zittern das Ungetüm, als erwache es aus einem tiefen Schlaf.