Torian schrie noch einmal auf. Zwei, drei Sekunden lang starrte er die Kreatur an, dann fuhr er herum, um den Raum auf gleichem Weg, auf dem er hereingekommen war, wieder zu verlassen, und prallte schmerzhaft gegen das schwarze Gestein der Kuppel. In seinem Kopf schien sich alles zu drehen, ihm wurde schwindelig. Hinter ihm erklang ein Scharren wie von hornigen Krallen und ließ ihn seine Schwäche vergessen.
Voller Panik tastete Torian mit den Händen die Wand ab. Der unsichtbare Durchgang konnte nicht weit entfernt sein, er war schließlich unmittelbar dahinter zu Boden gestürzt. Es sei denn, die Kuppel war nur von einer Seite aus durchlässig! dachte er entsetzt. Mit aller Gewalt unterdrückte er den Gedanken.
Der Drache stieß ein heiseres Fauchen aus.
Erneut widerstand Torian der Versuchung, sich umzudrehen. Er wußte, daß er verloren war, wenn er das Ungeheuer noch einmal anschaute, wenn er sah, wie es die Fesseln des Schlafes abstreifte und auf ihn zukam. Seine Finger glitten in rasender Hast über das schwarze Gestein, bis sie plötzlich widerstandslos darin einsanken.
Im gleichen Moment spürte Torian einen heißen Luftzug im Nacken. Ohne zu denken ließ er sich nach vorne fallen. Die Schwärze um ihn wich zurück, dann war plötzlich wieder helles Sonnenlicht um ihn herum, und er sah das steinerne Pflaster des Platzes vor der Kuppel auf sich zurasen. Instinktiv krümmte er sich zusammen, nahm dem Aufprall durch eine Drehung die schlimmste Wucht und sprang sofort wieder auf die Beine. Die Angst hielt ihn immer noch gepackt und trieb ihn voran. Torian lief einige Schritte weit, dann blieb er stehen und beobachtete minutenlang die Kuppel. Erst als er sicher war, daß die Kreatur ihm nicht folgte, atmete er erleichtert auf.
Seine Erleichterung verschwand einige Sekunden später jedoch ebenso schnell wieder, als er plötzlich spürte, daß er nicht mehr allein war. Er wußte nicht, woher dieser Eindruck stammte: Vielleicht war es einfach nur das Gefühl, eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, ein leises Geräusch – jedenfalls war er sicher, daß sich irgend jemand in seiner Nähe aufhielt.
Torian fuhr herum.
Der Platz und die Straßen hinter ihm waren so leer wie zuvor, und trotzdem wußte er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Etwas war dagewesen, und es hielt sich immer noch in seiner Nähe versteckt. Wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewußt, daß er völlig unbewaffnet war. Einige Sekunden lang schaute er sich mißtrauisch um, dann trat eine Gestalt aus einem Hauseingang und kam langsam auf ihn zu.
Seine Beine begannen zu zittern, er hatte das Gefühl, daß sie sein Gewicht nicht länger tragen könnten. Er wollte stöhnen, schreien, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er war wie gelähmt, blieb völlig reglos stehen. Alles verschwomm vor seinen Augen, er sah nur die Gestalt mit beinahe überdeutlicher Klarheit.
Es war ein junges, kaum zwanzigjähriges Mädchen mit weichem, von goldenem Haar umrahmtem Gesicht, das so zerbrechlich schien, als wäre es aus Glas modelliert. In ihren dunklen Augen mischten sich Trauer, Schmerz und eine unbändige, fassungslose Freude.
Torians Atem stockte. Er kannte das Mädchen, kannte es vielleicht besser, als jeden anderen Menschen. Er hatte es geliebt und geglaubt, es niemals mehr wiederzusehen, denn es war vor mehr als vier Jahren vor seinen Augen gestorben.
Lyn.
Er erforschte ihr Gesicht mit seinen Blicken, suchte nach einem Hinweis, daß er sich täuschte, daß es sich um eine Unbekannte handelte, die Lyn nur durch eine Laune der Natur ähnlich sah.
Es gab keinen. Der Ausdruck ihrer Augen, der Schwung ihres Mundes, jede Linie und jedes kleine Fältchen stimmte mit dem Bild Lyns überein, das sich unauslöschlich tief in seine Erinnerung eingegraben hatte.
Aber es konnte nicht sein. Es war schlichtweg unmöglich. U-n-m-ö-g-l-i-c-h! Er war dabeigewesen, als sie starb; hatte die schrecklichen Wunden gesehen, welche die Pfeile in ihren Körper gerissen hatten, das Entsetzen in ihrem Gesicht in den wenigen Sekundenbruchteilen, bis ihre Augen brachen.
Und jetzt stand sie vor ihm.
»Lyn!« keuchte er. Es klang fast wie ein erstickter Schrei. Seine eigene Stimme dröhnte fremd in seinen Ohren. »Du ...«
Lyn trat noch einige Schritte weiter auf ihn zu und blieb erst dicht vor ihm stehen. Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr engelhaftes Gesicht.
»Ja, ich bin es, Torian«, sagte sie.
Ihre Stimme ließ ihn erneut zusammenzucken. Wie oft hatte er sich danach gesehnt, sie noch einmal zu hören. Sein Herz begann wild und unkontrolliert zu schlagen. Er zögerte noch einen Moment, von plötzlicher irrsinniger Furcht gepackt, sie könnte sich als trügerische Illusion entpuppen, wenn er sie zu berühren versuchte, dann hielt er es nicht mehr länger aus und riß sie mit einem Schrei in die Arme; spürte, daß sie aus Fleisch und Blut war und kein körperloser Geist, der sich unter der Berührung wieder in Nichts auflöste. Torian preßte sie so fest an sich, daß es ihr weh tun mußte, aber daran dachte er in diesem Moment nicht. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, sondern spürte nur noch Lyns Nähe. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an sie, hätte sie am liebsten überhaupt nicht mehr losgelassen. Nach menschlichem Ermessen mochte diese Wiederbegegnung unmöglich sein, aber diese Logik war ihm im Augenblick herzlich egal. Lyn lebte, das war alles, was zählte, und er wollte das Wunder des Augenblicks nicht durch Fragen und die Suche nach Erklärungen zerstören.
Und doch empfand er weniger, als er nach all den Jahren der Trennung, in denen er sie für tot gehalten hatte, eigentlich hätte empfinden müssen. Alles war zu überraschend gekommen, und ein Teil seines Denkens weigerte sich, anzuerkennen, was er sah und fühlte.
Es dauerte Minuten, bis sie sich aus seinem Griff wand. Torian wollte wieder nach ihr greifen, doch sie schob seine Hände sanft aber bestimmt zurück. Nur langsam, ganz langsam begann sein Gehirn, wieder normal zu arbeiten, und damit kehrten auch die quälenden Fragen zurück, die ihm auf der Zunge lagen.
»Wie kannst du ... ich meine, du bist doch ...«, stotterte er, rang nach Worten, um das Unfaßbare auszusprechen, und brach schließlich hilflos ab.
»Tot willst du sagen«, vollendete Lyn den Satz.
Torian nickte beklommen. Ein Kloß saß ihm im Hals und hinderte ihn am Sprechen. Einen Herzschlag lang erwog er ernsthaft den Gedanken, sich sein Entkommen aus dem Fluß lediglich eingebildet zu haben, während er in Wahrheit ertrunken war, und es allem zum Trotz, was er bislang geglaubt hatte, wirklich so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tode gab.
»Nein, Torian, du lebst«, sagte sie leise, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Es war wohl nicht schwer gewesen, zu erraten, was er gerade dachte. »Du lebst, und ich bin tot, aber Kelysar hat dafür gesorgt, daß ich keinen Frieden finde. Er brachte mich hierher, um mich irgendwann als Druckmittel gegen dich einzusetzen.«
Sie legte ihm rasch die Hand auf die Lippen, als er den Mund öffnete. »Verlang keine Erklärung von mir«, bat sie. »Ich kann sie dir nicht geben. Wichtig ist nur, daß wir wieder zusammen sind. Vieles hat sich für mich geändert, aber ich liebe dich noch genauso wie früher, das mußt du mir glauben. Komm, laß uns in eines der Häuser gehen. Es wird kühl hier draußen, und drinnen können wir besser über alles sprechen.«
Sie griff nach seinem Arm, aber diesmal wich Torian ihrer Berührung aus. Es fiel ihm seltsam schwer, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Er hätte vor Freude schreien und toben müssen, aber er war unfähig, etwas anderes zu empfinden als nur Verwunderung über das unerwartete Zusammentreffen mit ihr. Ansonsten fühlte er nur Leere in sich, gepaart allerhöchstens mit ein wenig Erleichterung, dieser bizarren Umwelt nicht mehr allein gegenüberzustehen.