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»Wo sind wir hier überhaupt?« fragte er nach einigen Sekunden.

Sie dachte einen Moment angestrengt nach, dann schüttelte sie den Kopf. Ein gequälter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

»Bitte, Torian, frag nicht. Ich kann dir keine Antworten geben, die ich selbst nicht weiß. Ich bin einfach hier und habe gewartet, weil ich wußte, daß du irgendwann kommen würdest. Das ist alles.«

Nein, dachte er. Das war ganz und gar nicht alles. Trotzdem nickte er gedankenverloren. Im Grunde hatte er keine andere Antwort erwartet, auch wenn ihm nicht klar war, woher dieses Wissen stammte. Etwas an allem hier war auf unbegreifliche Art absurd und falsch, doch er wußte nicht, was es war. Etwas in ihm schrie danach, Lyn einfach zu folgen, und der Wunsch, sich ihr hinzugeben, wurde fast übermächtig. Dennoch kämpfte er dagegen an.

»Was ist das für eine Stadt?« unternahm er einen letzten Versuch, doch noch etwas aus ihr herauszubekommen. »Wer hat sie erbaut? Und warum stehen die Gebäude alle leer?«

Ihre Finger strichen zärtlich über sein Gesicht, liebkosten seine Lippen, und sein Widerstand schmolz dahin. »Was sollen wir in dem leeren Haus?« begehrte er noch einmal auf, während er sich schon widerstandslos von ihr in das Gebäude ziehen ließ.

»Wieso leer?« fragte Lyn verständnislos und machte eine weitausholende Bewegung mit der Hand. Torian ließ seinen Blick über die luxuriöse Einrichtung gleiten. Der Boden wurde von flauschigen Teppichen bedeckt, im Kamin flackerte ein Feuer. In der Mitte des Raumes plätscherte ein Springbrunnen. An den Wänden standen mit kunstvollen Schnitzereien versehene Schränke, es gab einen Tisch, mehrere Stühle und ein großes Bett, dessen weiche Kissen und Decken geradezu zum Ausruhen einluden.

Aber Lyn schien nicht nur ans Ausruhen zu denken, ganz und gar nicht. Beinahe willenlos ließ er sich von ihr zum Bett führen. Ihre Finger massierten sanft seinen Nacken. Sie zog Torian zu sich heran und küßte ihn. Die Berührung ihrer Lippen wühlte wie Feuer in ihm, und für eine Weile vergaß er alles andere um sich herum. Er schloß die Augen und gab sich ganz ihren Händen und Lippen hin.

»Endlich sind wir wieder vereint«, flüsterte sie. »Ich werde dich glücklich machen, Torian. Ich kann dich alles vergessen machen, was dich bedrückt.«

Ihre Worte bewirkten genau das Gegenteil dessen, was sie sollten – sie zerbrachen das süße Gift der Illusion.

Mit einem Ruck fuhr Torian hoch und löste sich abrupt aus ihrer Umarmung. Lyn wollte wieder nach ihm greifen, doch er stieß ihre Arme zurück. Immer noch brannte das Verlangen wie Feuer in ihm, aber diesmal war sein Verstand stärker als ihre Verlockung. Sie befanden sich noch im gleichen prachtvoll eingerichteten Raum, aber etwas an der Umgebung schien auf unbegreifliche Art falsch zu sein. Mit dem Einbruch der Dämmerung waren die Schatten im Raum länger und dichter geworden. Die Dunkelheit lockte sie aus den Winkeln und Ecken, in die das Sonnenlicht sie verbannt hatte, und verlieh ihnen ein bedrohliches Eigenleben. Manche der dräuenden Schatten schienen fast schon ein wenig zu dicht, zu stofflich, um allein durch die Abwesenheit von Licht hervorgerufen zu werden. Und mit jeder verstreichenden Minute ergriffen sie mehr Besitz von dem Zimmer; eine Armee der Nacht, welche die Wirklichkeit eroberte. Es war, als würde irgendwo in ihm ein Schleier zerreißen, der seinen Blick bislang getrübt hatte. Die Gegenstände schienen zu flakkern und mit jeder Sekunde mehr an Realität zu verlieren.

»Was hast du gemacht?« stieß Torian hervor.

Fragend schaute sie ihn an. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich-«

»Du verstehst mich sehr gut«, unterbrach er sie barsch, obwohl er spürte, daß seine Worte ihr Schmerzen bereiteten.

»Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Und ich will wissen, wer du bist. Du siehst zwar aus wie Lyn, aber du bist es nicht. Sie ist tot, und keine Macht der Welt kann sie wieder zum Leben erwecken.«

»Du irrst dich, Torian«, widersprach sie leise. »Ich bin Lyn, und ich lebe, weil du es dir so sehnlich gewünscht hast. Ich habe nur getan, was du gewollt hast«, fuhr sie rasch fort. Tränen glitzerten in ihren Augen. Als Torian den Kopf hob, war das Zimmer wieder zu dem geworden, was es in Wirklichkeit war. Nicht mehr als ein leerer Raum in einem leeren Gebäude. »Du bist erschöpft, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Und außerdem haben wir uns so lange nicht gesehen und ich ...«

Ihre Ruhe und ihr mitleidiges Lächeln trieben ihn fast zur Raserei. Torian kam nicht gegen den Zorn an, der plötzlich in ihm aufwallte. Das Gefühl, daß einiges hier nicht stimmte, hatte sich mit dem Verschwinden der Möbel keineswegs verringert.

Das Wesen, das vor ihm stand, war nicht die Lyn, die er gekannt hatte. Er konnte die mit ihr vorgegangenen Veränderungen spüren, unterschwellig nur, aber dennoch deutlich genug, um sie nicht als bloße Einbildung abtun zu können. Aber er fühlte zugleich auch, daß sie mehr war als nur ein Wesen, das ihr ähnlich sah, denn diese Ähnlichkeit bezog sich nicht nur auf ihr Äußeres. Nichts unterschied sie von Lyn.

Es war eher so, als ob ihr etwas fehlte, dachte Torian schaudernd. Selbst der Ausdruck von Schmerz, der wieder auf ihrem Gesicht lag, erschien ihm noch gespielt, wie bei einer äußerlich makellosen Puppe, der man nur eines nicht hatte mitgeben können: eine Seele.

Einige Sekunden lang starrte sie ihn noch verzweifelt an, dann schlug sie mit einem erstickten Wimmern die Hände vors Gesicht und stürmte aus dem Raum. Torian versuchte, nach ihr zu greifen, um sie festzuhalten, aber er war zu langsam. Fluchend rannte er ihr nach. Er durfte sie nicht verlieren, sie war die einzige, die vielleicht etwas Licht in all die Rätsel bringen konnte.

Die Sonne war merklich tiefer gesunken und hatte sich rötlich verfärbt. Sie schien den ganzen Himmel in flüssiges Feuer zu tauchen. Auch auf die Gebäude blieb die Veränderung nicht ohne Wirkung. Ihr vormals strahlender Glanz hatte sich auf den unteren, in Schatten getauchten Metern in ein mattes Grau verwandelt und jeden Rest von Schönheit verloren. Vielleicht kam es Torian auch nur so vor, weil er gar nichts anderes sehen wollte. Bei allem, was ihn beschäftigte, machte er sich nicht auch noch darüber Gedanken, wie gut ihm diese Totenstadt nun gefiel.

Lyn – oder wer auch immer sie war – lief ein Stück vor ihm. Er folgte ihr durch das Labyrinth der verwinkelten, toten Straßenschluchten. Die Fenster der Gebäude erschienen ihm wie höhnisch starrende Augen, die türlosen Eingänge wie gierig aufgerissene Mäuler. Lyns Gestalt schien sich der veränderten Umgebung anzupassen, ebenfalls dunkler und grau zu werden. Ihm fiel auf, daß sie immer wieder den Kopf zum Himmel wandte. Man konnte das Sinken der Sonne fast mit bloßem Auge verfolgen. Es sah aus, als würde der glutrote Ball von den spitzen Türmen aufgespießt, und mit jeder Handbreit, die er sich tiefer senkte, schien Lyn ein wenig von ihrer Stofflichkeit einzubüßen.

Er rannte so schnell er nur konnte. Sein Körper war durchtrainiert und Strapazen gewöhnt, Lyn hingegen wurde beim Laufen durch ihre zierlichen Schuhe und das weitgeschwungene Kleid behindert. Trotzdem gelang es ihm nicht, sie einzuholen. Eine unerklärliche Schwäche hatte ihn gepackt, und für einen Moment wurde ihm sogar so schwindelig, daß er fast das Gleichgewicht verlor, doch der Schwächeanfall verging sofort wieder.

Die Sonne versank hinter dem Dach eines Hauses und hing nur noch dicht über dem Horizont. In der Straße wurde es dunkel.

Im gleichen Moment brach Lyn zusammen. Sie taumelte und versuchte sich an einer Hauswand abzustützen, bevor sie vollends den Halt verlor und zu Boden stürzte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt.

»Flieh, Torian«, wimmerte sie. »Du mußt raus aus dieser Stadt. Es ... es ist nicht mehr weit. Lauf... bis zum Ende der Straße. Lauf weg.«