Torian ballte hilflos die Faust, hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Aylas vorwurfsvollem Blick standzuhalten, und wandte sich mit einem Ruck ab. »Hör endlich auf, mich Herr zu nennen«, fauchte er. »Ich heiße Torian, also nenn mich auch so.«
Um sie herum stöhnten die Verwundeten. Viele von ihnen würden sterben, noch bevor die Nacht verging, obwohl sich mittlerweile überall andere Laa um ihre Wunden kümmerten. Aber für viele würde jede Hilfe zu spät kommen. Der Platz wurde von unzähligen Fackeln und brennenden Feuern fast taghell erleuchtet. Es war nicht die erste Kampfstatt, die Torian sah, er hatte in seinem Leben schon mehr Schlachten geschlagen, als er sich überhaupt erinnern konnte.
Und doch traf ihn der Anblick immer wieder wie beim ersten Mal und erinnerte ihn daran, daß das Wort Schlacht von schlachten kam. Tiere wurden geschlachtet, und der Krieg machte jeden Menschen zum Tier. Noch nie war ihm dies so deutlich bewußt geworden.
»Nun, wie fühlt man sich als Gott?« fragte Shyleen spöttisch.
Sie war unbemerkt herangekommen und hatte anscheinend die letzten Worte mitgehört. Torian musterte sie kurz. Als einzige Verletzung hatte sie eine Platzwunde an der Stirn davongetragen, wo sie die flache Seite eines Schwertes getroffen hatte.
Garth hatte es schlimmer erwischt; die Klaue einer Echse hatte ihm die Brust aufgerissen und ihm mehrere Rippen gebrochen, aber er würde es überleben. Bei seiner Zähigkeit und der Schnelligkeit, mit der alle Wunden hier heilten, würde er wahrscheinlich schon bald wieder auf den Beinen sein.
»Hör auf mit dem Unsinn«, gab Torian schärfer als beabsichtigt zurück. Nachdem sich seine Überraschung gelegt hatte, war es ihm für einige Minuten fast angenehm gewesen, von diesen Leuten als eine Art Halbgott verehrt zu werden – wenn er auch noch immer nicht ganz genau wußte, warum eigentlich. Jetzt aber erfüllte ihn der Gedanke nur noch mit Schrecken. »Mir ist wirklich nicht nach dummen Spaßen zumute.«
Ayla kniete einige Schritte vor ihnen bei einem Verletzten nieder, so daß er sich für eine Weile mit Shyleen allein unterhalten konnte.
»Für diese Leute hier scheint es kein Spaß zu sein. Du bist ihr Befreier, ob du es willst oder nicht.« Ihre Stimme war ganz ernst, aber in ihren Augen blitzte es spöttisch, während sie diese Worte aussprach.
»Ja, auch wenn ich nichts davon weiß«, fügte Torian säuerlich hinzu. »Verdammt, die müssen mir doch eine Möglichkeit geben, da wieder rauszukommen.«
»Sieht aber nicht so aus. Gegen die Überlieferungen dieses Volkes scheint selbst der berüchtigte Torian Carr Conn machtlos. Du wirst es erleben, bald kommen die ersten an und bitten dich, sie durch Handauflegen von ihren Gebrechen zu heilen.«
Wider Willen mußte Torian grinsen. »Noch ein paar solcher Bemerkungen, und ich verkünde lauthals, du würdest mich ärgern. Mal sehen, welche Strafe hier auf Gotteslästerung steht.« Er seufzte und schüttelte verdrossen den Kopf. »Warum hat man bloß nicht dich oder Garth als Befreier auserkoren?«
Shyleen hatte ihm erzählt, was ihnen zugestoßen war. Wenige Sekunden nach seinem Sturz in den Fluß waren sie von den Echsen überwältigt und niedergeschlagen worden. Während ihrer Bewußtlosigkeit hatten die Laa die Echsen angegriffen und überwältigen können. Als sie wieder erwacht waren, hatten sie sich bereits im Dorf befunden. Ayla und einige andere Laa verfügten offenbar über schwache magische Fähigkeiten, denn sie hatten ihre Sprache allein dadurch erlernt, daß sie ihnen einige Minuten lang die Hände auf die Stirn gelegt hatten. Zumindest behaupteten sie es. In der Nacht war das Dorf dann von den Echsen überfallen worden, und die weiteren Ereignisse hatte Torian ja schmerzhaft am eigenen Leib erfahren.
»Wir waren eben so schlau, uns im Gegensatz zu dir von den Echsen überwältigen zu lassen«, erwiderte Shyleen lächelnd. »Das sah wohl nicht besonders göttlich aus.«
»Dann kannst du als einfacher Mensch vielleicht einem verzweifelten, hilflosen Gott raten, was er tun soll, um ebenfalls wieder zum Menschen zu werden. Ich denke ja gar nicht daran, dieses Volk in einen Rachefeldzug gegen die Echsen zu führen, in dem sie wahrscheinlich alle umkommen würden. Zum Teufel, was sollen wir bloß tun?«
»Ganz einfach: Hör auf, dir wegen dieser Leute Sorgen zu machen. Benutzen wir unseren Verstand und türmen wir wie brave kleine Feiglinge, oder besser noch, denk daran, weshalb wir hergekommen sind, und wie du deine Macht für dieses Ziel einsetzen kannst.« Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging davon. »Ich sehe nach, wie es Garth geht«, rief sie ihm über die Schulter nach, dann war sie verschwunden.
Nachdenklich starrte Torian ihr nach und bemerkte kaum, wie sich Ayla wieder aufrichtete und neben ihn trat. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Er wird sterben. Ich kann nichts für ihn tun. Aber wir werden wohl alle bald sterben. Diese Bestien werden wiederkommen, vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann werden sie uns wieder angreifen.«
In ihr Gesicht trat plötzlich ein harter Zug, der ihn beinahe mehr erschreckte als ihre Worte. Es tat ihm weh, dieses blutjunge Mädchen über das Sterben sprechen zu hören, aber dann stellte er fest, daß er in genau den Bahnen zu denken begann, in die Ayla seine Gedanken lenken wollte. Einen Moment lang wurde der Wunsch, sie an den Schultern zu packen und anzuschreien, daß sie damit aufhören sollte, übermächtig in ihm, doch er kämpfte dagegen an und ballte nur in stummer Verzweiflung die Fäuste. Was hier geschah, war schrecklich; ein entsetzliches Blutbad, das seit Jahrtausenden anhielt und wider jede Natur war. Aber es ging ihn nichts an. Er durfte sich nicht in die Angelegenheiten dieser Leute mischen, auch wenn dies vielleicht den Tod Hunderter Menschen bedeutete! Wenn er tat, was die Laa von ihm wollten, würde er ebenfalls hundertfaches Leid verbreiten.
Aber das war nicht der einzige Grund, und er versuchte sein Tun auch nicht damit zu rechtfertigen, daß sie den Tempel der verbotenen Träume unbedingt erreichen mußten. Wenn Shyleen nicht alterte, solange sie sich in diesem Tal aufhielten, kam es auf ein paar Tage oder Wochen mehr auch nicht mehr an. Es gab einen anderen Grund: Er war des Kämpfens einfach müde. Zum Teufel, er konnte nicht überall, wo er zufällig einen Brand entdeckte, diesen zu löschen versuchen. Zum Helden fühlte er sich nicht berufen, mochten die Laa in ihm sehen, was sie wollten.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er anders darüber dachte. Im Kampf gegen die Schwarzen Magier hatte er sich eingebildet, seinen Teil zur Rettung der Welt beizutragen, und vielleicht war es sogar wirklich so gewesen. Aber mittlerweile hatte er auch erkannt, daß ihn weder Pflichtgefühl noch Heldentum oder etwas ähnlich Albernes dazu getrieben hatten, sondern nur der Haß. Er war sein Leben lang ausgenutzt worden, hatte immer nur Kämpfe ausgetragen, die nicht seine eigenen waren. Erst durch die Begegnung mit der Kreatur, die sich als Lyn ausgegeben hatte, war ihm dies wieder bewußt geworden.
»Ayla«, begann er stockend, sprach aber nicht weiter, sondern drehte sich wieder um und sah das Mädchen mit einem verlegenen Lächeln an. »Diese Stadt, in der Marodon mich gefunden hat«, wechselte er schließlich das Thema. »Was ist mit ihr?«
»Es ist ein böser Ort. Normalerweise wagen wir uns nicht dorthin, aber Marodon hat deine Spuren bis dort verfolgt und dich gerade noch rechtzeitig entdeckt. Die Stadt ist von einer fremden Magie erfüllt. Sie vermag deine Träume wahr zu machen, wenigstens ist es bei Tage so. Doch sobald die Sonne untergeht, verwandelt sich jeder Traum in einen Alptraum, alles Schöne wird zu einem mörderischen Ungeheuer. Was ist dir dort passiert?«