Torian antwortete nicht. Was Ayla sagte, klang einleuchtend. Wenn Lyn nur eine Traumgestalt gewesen war, erklärte das ihr sonderbares Verhalten, und es paßte auch zu dem, was Shyleen über die Kristallfürstin erzählt hatte, deren Waffe die Träume waren. Wenn die Stadt nicht viel mehr als ein formgewordenes Traumgespinst war, eine optische Illusion, dann erklärte das auch, wieso er nicht einmal von dem Turm aus ein Ende des Waldes hatte erkennen können. Möglicherweise hatte er sich sogar nur eingebildet, auf den Turm hinaufzusteigen. Er würde wohl nie erfahren, wo genau dort die Trennlinie zwischen Traum und Wirklichkeit verlief.
»Es gab ein seltsames Gebäude dort, eine schwarze Kuppel«, fuhr er fort. »Weißt du etwas darüber?«
Ayla schüttelte den Kopf, nickte gleich darauf und zuckte mit den Schultern. »Wenig«, erwiderte sie. »Als die Fremden damals in unser Tal kamen, errichteten sie als erstes die Kuppel, die Stadt selbst entstand erst später. Sie wird von den Echsen besonders bewacht. Nur weil sie unser Dorf angegriffen haben, bist du unbemerkt bis dorthin gekommen.« Sie schaute ihn an, und er glaubte, einen lauernden Ausdruck in ihren Zügen zu entdecken. »Warum interessierst du dich dafür?«
»Vielleicht liegen unsere Ziele doch nicht ganz so weit auseinander«, murmelte er ausweichend. Dann fuhr er herum und eilte ohne ein weiteres Wort davon, um ungestört über alles nachdenken zu können.
»Torian, warte!« rief sie ihm nach. »Ich muß dir noch etwas sagen.«
»Später«, antwortete er. Er hatte erfahren, was er wissen wollte und ging schneller, als er bemerkte, daß Ayla ihm folgte; in respektvollem Abstand zwar, aber beharrlich wie ein Schatten, und schließlich kehrte er in seine Unterkunft zurück, die sie ihm direkt nach dem Kampf gezeigt hatte. Es schien der einzige Ort zu sein, an dem er für ein paar Minuten allein sein konnte – und selbst das nur, nachdem er Ayla die Tür demonstrativ vor der Nase zugeschlagen hatte. Vielleicht hatte er sie sogar getroffen. Torian wußte es nicht sicher, und es war ihm auch egal. Auf jeden Fall hatte er endlich seine Ruhe.
Es war eine der größten Hütten. Sie wurde nur noch von einem langgestreckten Gebäude im Zentrum des Dorfes übertroffen, dem einzigen, das aus Stein erbaut war, und wo jetzt die Verletzten untergebracht worden waren. Torians Hütte gehörte eigentlich Marodon, doch auch dieser war schwer verletzt worden. Es gab in der Hütte nur wenige Möbelstücke. Sie waren schlicht und zweckmäßig. In einer Halterung blakte eine Fackel und erfüllte den Raum mit flackerndem Licht.
Torian ließ sich auf das Bett sinken und starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zur Decke hinauf. Erst jetzt wurde ihm wieder bewußt, wie müde er war. Er glitt für einige Minuten in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, aus dem ihn das Knarren der Tür aufschrecken ließ. Er öffnete den Mund, um Ayla zurechtzuweisen, dann erkannte er, daß es sich bei den Besuchern um Shyleen und Garth handelte. Um die Brust des Diebes lag ein dicker Verband. Sein Gesicht war blaß, und sein Gang unsicher. Seine Augen glänzten fiebrig, aber es lag eine Entschlossenheit in seinem Blick, die Torian zeigte, daß alle Ermahnungen, sich hinzulegen und zu schonen, vergebens wären. Garth hatte schon immer seinen eigenen Dickkopf gehabt.
»Dieser Narr scheint sich unbedingt selbst umbringen zu wollen«, begann Shyleen, um dann die Frage anzuschließen: »Hast du etwas herausgefunden?«
Torian nickte.
»Ich glaube, ich weiß, wo der Tempel der verbotenen Träume liegt. Ich habe es vorher schon geahnt, war mir aber nicht sicher. Jetzt gibt es kaum noch einen Zweifel. Ich war sogar schon im Tempel drin.«
Er machte eine Pause und genoß den Ausdruck ungeduldiger Spannung auf Shyleens Gesicht, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. »Ich schwöre, daß ich dir die Augen auskratze, wenn du nicht sofort sagst, was du weißt«, drohte sie. Und er war ganz und gar nicht sicher, daß diese Worte so scherzhaft gemeint waren, wie er im ersten Moment glaubte.
Torian berichtete von der Kuppel und seinen Erlebnissen in der Stadt, und wiederholte, was ihm Ayla erzählt hatte.
»Es muß der Tempel sein«, stieß Shyleen aufgeregt hervor, als er geendet hatte. »Und die Echsen dienen als Wächter, falls jemand die anderen Fallen überwindet. Ist dir sonst nichts im Tempel aufgefallen?«
»Ich habe nur den Drachen und diesen Klotz gesehen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Schrein.«
»Dann müssen wir uns also nur noch etwas einfallen lassen, um den Drachen zu besiegen. Alles andere erledigen die Laa für uns. Etwas Besseres konnte uns kaum passieren. Sie werden uns bereitwillig den Weg ebnen, schließlich haben wir den gleichen Feind. Du brauchst ihnen nur zu befehlen, gegen dieses Echsengezücht zu ziehen. Sie freuen sich ja geradezu auf den Kampf.«
»Langsam«, dämpfte Torian ihren Überschwang. »Wenn es so einfach wäre, hätten sie diesen Krieg schon längst gewonnen. Auf ein Schwert mehr oder weniger sind sie wohl kaum angewiesen. Ich glaube nicht, daß es ihnen allein um den Kampf geht. Sie erwarten etwas anderes von mir, etwas, wovon sie glauben, daß nur ich es tun kann.«
»Oh, verzeih, ich vergaß deine Göttlichkeit, Herr«, spottete Shyleen, wurde aber sofort wieder ernst. »Und was soll das sein, weißt du das auch?«
Torian schüttelte den Kopf.
»Ich konnte Aylas Unterwürfigkeit nicht mehr ertragen und habe mich hierhin verdrückt, bevor sie mir alles erklären konnte. Außerdem wollte ich gar nichts mehr davon hören. Aber wir können sie ja suchen, damit sie mich über meine Aufgaben als Erretter aufklärt.«
»Nicht nötig«, schaltete sich Garth ein und deutete auf einen Schatten, der sich vor der schmalen Ritze zwischen Tür und Boden abzeichnete. »Sie wartet bereits auf dich. Scheint ja eine besonders eifrige Verehrerin zu sein.«
Torian verdrehte die Augen und stieß einen lautlosen Fluch aus, ging zur Tür und forderte das Mädchen barsch auf, hereinzukommen. »Also gut, ich werde versuchen, euch zu helfen«, teilte er ihr mit.
Ihre Augen leuchteten vor Freude auf. »Wirklich Herr?« Sie sah den Unmut in seinem Gesicht und verbesserte sich sofort selbst: »Torian.«
»Aber erst muß ich wissen, was ich tun soll. Ich nehme nicht an, daß ihr so verrückt seid, die Echsen in einer offenen Schlacht anzugreifen. Sonst schlagt euch diesen Unfug nämlich ganz schnell wieder aus dem Kopf.«
»Nein, natürlich nicht. Du erinnerst dich noch an die Kuppel, von der wir zuletzt gesprochen haben? Eine uralte Prophezeiung besagt, daß dort der Schlüssel zur Rettung unseres Volkes verborgen liegt, daß aber nur ein Fremder, der die Echsen besiegt, ihn finden kann. Wir haben versucht, selbst in die Kuppel einzudringen, immer wieder, aber erfolglos.«
Torian kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum. Die alte Legende konnte sich nur auf die Kristallfürstin beziehen. Wenn sie aus ihrem Schlaf erwachte, brauchten die Echsen den Tempel nicht mehr zu bewachen. Vielleicht würden sie sogar sterben, wenn ihr Auftrag erfüllt war.
»Der Zugang ist unsichtbar«, sagte er.
»Wir haben jeden Zentimeter der Kuppel abgetastet, ohne eine Öffnung zu finden«, widersprach Ayla. »Du mußt für uns hineingehen, Herr – Torian.«
»Das werden wir, verlaß dich darauf!« versprach Shyleen triumphierend. »Genau deshalb sind wir hergekommen.«
Torian beachtete sie nicht. »Haben die Echsen nicht versucht, euch aufzuhalten?« hakte er stirnrunzelnd nach. »Du hast doch behauptet, sie würden gerade die Kuppel besonders scharf bewachen.«
»Das tun sie auch, aber sie werden uns diesmal nichts anhaben können«, erwiderte Ayla eifrig. »Wir werden am Siegestag aufbrechen.«
»Siegestag?«
Sie nickte. »Wir machen uns den Lebensrhythmus der Echsen zunutze. Schon vor langer Zeit haben wir durch Zufall herausgefunden, daß sie in regelmäßigen Abständen, nämlich alle zweiundsiebzig Tage, für einen Tag und eine Nacht so gut wie hilflos sind. Es muß irgend etwas mit ihrer ursprünglichen Heimat und der Umwelt dort zu tun haben. In dieser Zeit verkriechen sie sich jedenfalls irgendwo, weil sie sonst wehrlose Opfer für uns wären. Wir nennen es den Siegestag. In neun Tagen ist es wieder soweit, und dann werden wir unser Ziel ungehindert erreichen können.«