Ja, dachte Torian, während er sich neben sie sinken ließ und die Hände nach ihr ausstreckte. Es tat gut, Freunde zu haben. Und er hatte sich geirrt, vorhin – er war nicht nur zufrieden. Er war glücklich. Und er wünschte sich, daß dieser Moment nie, nie vorüberging. In dieser Nacht träumte er; einen Alptraum, so entsetzlich, daß er die Furcht nicht einmal dann abschütteln konnte, als er mitten in diesem Traum begriff, daß er träumte: Er träumte, mitten in der Nacht aufzuwachen, geweckt durch ein Geräusch oder vielleicht auch nur durch die tiefe Stille, die sich über der Hütte ausgebreitet hatte, und er träumte, daß er die Augen aufschlug und Ayla nackt und zusammengekuschelt wie ein Kind neben sich schlafen sah. Aber es war nicht mehr die Ayla, die er kannte, sondern ein Zerrbild des Mädchens: alt und verbraucht, ausgemergelt bis zum Skelett und mit Wunden und großen, eiternden Stellen voller Ausschlag und Grind übersät. Ein schrecklicher Geruch nahm ihm den Atem, und als er aufschaute, erkannte er auch, woher er kam: Er war nicht länger in Aylas Hütte, auch nicht mehr im Dorf der Laa, sondern lag auf einem Lager aus faulendem Laub unter dem Kuppeldach einer gigantischen, feuchten Höhle, die nur trübe von einem halben Dutzend kleiner Feuer erhellt wurde. Andere Gestalten, Männer und Frauen und Kinder, alle so schrecklich ausgezehrt und krank wie Ayla, lagen schlafend um diese Feuer herum, und dann und wann war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Dann fiel sein Blick auf zwei Gestalten, die nur wenige Schritte von ihm entfernt waren, schlafend und zum Schutz vor der beißenden Kälte eng aneinandergekuschelt wie Ayla und er, und im ersten Moment begriff er gar nicht, warum ausgerechnet diese beiden seine Aufmerksamkeit erregten; bis er erkannte, daß es Shyleen und Garth waren, die der Traum als einzige nicht zu Schreckgespenstern gemacht hatte.
Voller Entsetzen richtete er sich ganz auf und sah an sich herab, darauf gefaßt, auch seinen Körper gealtert und fast zum Greis verfallen zu erblicken – aber es war wie bei Garth und Shyleen: Er selbst schien nicht Teil dieses Alpdruckes zu sein; er war jung und kräftig wie immer, mit ein paar neuen Wunden, die bereits zu heilen begannen, aber unverändert.
Seine abrupte Bewegung weckte Ayla – oder das, wozu sie sich in diesem Traum verändert hatte. Mühsam setzte sie sich auf und sah ihn einen Augenblick lang aus trüben, blutunterlaufenen Augen an; Augen, in die Hunger und Resignation und Schmerz unauslöschliche Spuren gegraben hatten. Torian versuchte vergeblich, das Entsetzen zu unterdrücken, mit dem ihn ihr Anblick erfüllte.
»Ihr Götter!« stammelte er. »Ayla! Was ist... mit dir... geschehen?!«
Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak sie. Panik lag in ihrem Blick. Ihre dürren, mit kleinen eiternden Wunden übersäten Hände hoben sich, tasteten zitternd nach seinem Gesicht und erstarrten mitten in der Bewegung. Dann lächelte sie.
»Geschehen?« fragte sie. »Was meinst du?«
»Dein... dein Gesicht!« keuchte Torian. Seine Stimme drohte zu versagen. »Ayla, was ist hier –«
»Nichts«, unterbrach ihn Ayla. Sie lächelte, aber ihre Lippen waren so dünn und blutleer, und der Mund dahinter so rot, daß es aussah, als entstünde eine breite blutige Wunde in ihrem Gesicht. Torian unterdrückte mit aller Kraft den Impuls, zu schreien und sie einfach von sich zu stoßen.
»Nichts ist geschehen, Torian», beruhigte sie ihn kichernd. »Du träumst. Manchmal schicken uns die Echsen böse Träume, um uns zu quälen, weißt du? Schlaf weiter.«
Torian gehorchte. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Traum vergessen, aber etwas blieb zurück; etwas wie ein schlechter Geschmack in seinen Gedanken, den er den ganzen Vormittag über nicht los wurde, ganz gleich, wie sehr er versuchte, sich abzulenken, oder wie sehr Garth und Shyleen oder auch Ayla – denen seine gedrückte Stimmung natürlich keineswegs entging – auch versuchten, ihn aufzuheitern.
So war es denn auch mehr sein eigenes Bedürfnis, sich auf andere Gedanken zu bringen, als wirkliches Interesse, das ihn bewog, seine Zusage vom vergangenen Tag einzuhalten und Garth und Shyleen bei ihrem Ausflug in die Berge zu begleiten. Die Laa erhoben keine Einwände, als sie das Dorf verließen — immerhin war heute der Siegestag, so daß mit einem Angriff der Echsen nicht zu rechnen war, und auch die mörderische Natur des Tales konnte ihnen nichts anhaben, solange sie sich vom Fluß fernhielten und nicht etwa auf die Idee kamen, ihn überschreiten zu wollen.
Aber ihr Weg führte in die entgegengesetzte Richtung, und schon nach weniger als einer halben Stunde hatten sie alles vergessen, was jenseits der Trennlinie aus Wasser lag, die dieses Tal in eine bewohnbare und eine tödliche Hälfte teilte.
Es war wie ein Ausflug ins Paradies.
Der Weg war anstrengend, aber nicht zu schwer, und die Müdigkeit, die sich bald in ihren Gliedern breitmachte, war von sehr angenehmer, entspannender Art.
Stundenlang wanderten sie durch eine unberührte Gegend, die von einer wilden, bizarren Schönheit erfüllt war: gigantische Felslandschaften wechselten mit kleinen, von verträumten Hainen erfüllten Tälern ab, tosende Wasserfälle mit sprudelnden Bächen von kristallener Klarheit, sanft abfallende Hänge mit jähen Schluchten, in deren Tiefe sich ihr Blick verlor, ohne auf einen Grund zu treffen. Nichts von alledem war Torian fremd oder neu – er hatte all dies und tausend andere Wunder der Natur schon hundertfach gesehen, an hundert verschiedenen Orten auf der Welt, aber niemals in solcher überschwenglichen Fülle, und niemals in solcher Reinheit. Es war, als sähe er zum ersten Mal wirkliche Schönheit, es schien keine Zwischentöne zu geben: In die majestätische Größe dieser Berge mischte sich keine Gefahr, in den wild wuchernden Wuchs der Wälder kein Verfall, in das kristallklare Wasser der Bäche kein Sandkorn. Er kam sich vor, als wandere er durch ein Bild, das ein begnadeter Maler unmittelbar nach seinen Träumen gemalt und ein Magier zur Wirklichkeit erweckt hatte.
Sie strichen fast ziellos durch die Berge, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und weiterwanderte, dann rasteten sie eine Stunde, ehe sie sich auf den Rückweg machten. Obwohl keiner von ihnen besondere Acht auf die Strecke gegeben hatte, fanden sie den Weg zurück mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit. Müde und auf sehr angenehme Art erschöpft kehrten sie mit dem letzten Licht der untergehenden Sonne ins Dorf der Laa zurück.
Sie platzten mitten in die letzten Vorbereitungen der Krönungszeremonie hinein. Der Platz zwischen der Handvoll kleiner Hütten hatte sich verändert. In seiner Mitte brannte jetzt ein helloderndes Feuer, die Hütten selbst und auch der Weg zum See hinunter waren mit Blüten und kunstvoll geflochtenen Girlanden geschmückt, und von der anderen Seite des Ortes wehte ein Durcheinander scheinbar wahllos gespielter Musikinstrumente zu ihnen. Es dauerte einen Augenblick, bis Torian begriff, daß er vergeblich versuchen würde, eine Melodie zu identifizieren: Offensichtlich probten einige Laa einfach auf ihren Instrumenten, und in kindlicher Unbefangenheit war es ihnen ziemlich gleichgültig, daß drei Dutzend anderer in ihrer unmittelbaren Umgebung dasselbe taten.
Torian verabschiedete sich flüchtig von Shyleen und Garth und trat in seine Hütte, in der Ayla bereits auf ihn wartete. Sie saß mit dem Rücken zur Tür da und war damit beschäftigt, sich einen Blütenkranz ins Haar zu flechten. In der linken Hand hielt sie einen Spiegel, und für den Bruchteil eines Herzschlages fiel Torians Blick in diesen Spiegel.
Er erstarrte, als er das Gesicht darin sah.
Es war nicht Aylas Gesicht.
Im gleichen Moment, in dem er über Aylas Schulter hinweg in den Spiegel blickte, erinnerte er sich wieder an seinen Alptraum, und es war das Gesicht aus diesem Traum, eine zerfallene, graue Fratze, in die Krankheit und Not ihre Spuren gegraben hatten, und aus der blutunterlaufene trübe Augen voller Haß und gleichzeitigem Erschrecken seinem Blick begegneten.