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Dann senkte Ayla den Spiegel und drehte sich gleichzeitig herum, und die Illusion zerplatzte; ihr Gesicht war wieder normal, das zarte, immer zu einem leisen Lächeln verzogene Antlitz des Mädchens, das ihm zum ersten Mal seit Jahren wieder das Wort Geborgenheit gelehrt hatte.

Aber Torian wäre nicht Torian gewesen, hätte er irgendwie anders reagiert, als er es tat: Ohne auf Aylas verwunderten Blick zu achten, trat er an ihr vorbei, nahm ihr den Spiegel aus der Hand und schaute hinein.

Er sah sein eigenes Gesicht. Und es war ganz genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Keine Alptraumvisage.

»Was hast du?« fragte Ayla. Ihre Stimme klang gleichzeitig verwirrt wie alarmiert.

Torian ließ den Spiegel wieder sinken, lächelte verlegen und schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, antwortete er. »Entschuldige. Ich ... hatte heute nacht einen üblen Traum, das ist alles.«

»Und mein Spiegel spielte darin eine Rolle?« fragte Ayla spöttisch.

Torians Lächeln wurde noch ein wenig verlegener. »Natürlich nicht«, log er. »Vergiß es. Ich bin nervös, das ist alles.«

»Sicher«, pflichtete Ayla verständnisvoll bei. »Du hast viel durchgemacht, auf dem Weg hierher. Aber das wird sich geben.« Sie stand auf, schob mit der linken Hand die Blüten in ihrem Haar zurecht und küßte ihn flüchtig. Aber als er nach ihr greifen und sie fester an sich ziehen wollte, entschlüpfte sie ihm mit einer fließenden Bewegung und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Dazu ist jetzt keine Zeit«, erklärte sie, während sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger drohte. »Die Zeremonie beginnt, sobald die Sonne vollends untergegangen ist. Du willst doch nicht den glücklichsten Moment im Leben deiner Freunde verpassen, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Torian hastig. Er trat einen Schritt zurück, bückte sich, um den Spiegel wieder zu Boden zu legen – und ertappte sich dabei, ihn für einen winzigen Moment so zu halten, daß sich Aylas Gestalt in dem polierten Silber brach.

Aber nichts daran hatte sich verändert. Sie war jung und schön und unschuldig wie immer.

Torian legte den Spiegel hastig endgültig aus der Hand und schalt sich in Gedanken einen mißtrauischen Narren. Wenn er nicht acht gab, würde er alles zerstören. Diese Menschen hier –und allen voran Ayla – hatten nichts anderes im Sinn, als Shyleen, Garth und ihn glücklich zu machen, und er suchte fast krampfhaft nach...

Ja – wonach eigentlich?

Verwirrt richtete er sich auf, blickte auf den zierlichen Silberspiegel zu seinen Füßen hinab und zerbrach sich vergebens den Kopf darüber, was daran sein Mißtrauen erweckt haben mochte. Irgend etwas war nicht in Ordnung gewesen, als er hier hereingekommen war – aber was? Etwas hatte sein Mißtrauen geweckt, etwas, das mit diesem Spiegel zusammenhing, oder dem, was er darin gesehen hatte, aber er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war...

Torian fühlte sich wie betrunken. In seinem Kopf drehte sich alles. Er machte einen Schritt auf Ayla zu, blieb wieder stehen und streckte die Hände nach ihr aus. Er wankte. Ayla machte keine Anstalten, um ihn zu stützen, sondern sah ihn nur an, auf eine sehr sonderbare, fragende Art, in der nichts Feindseliges, aber auch ganz und gar nichts Warmes mehr war.

»Was ist mit dir?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht wohl?«

»Doch«, log Torian. »Es ist... nichts. Ich bin ... ein wenig müde – glaube ich. Der Tag war anstrengend.«

»Warum ruhst du dich nicht aus?« fragte Ayla. »Schlaf. Ich wecke dich, wenn das Fest beginnt.« Sie lächelte, ihre Stimme war warm und sanft wie immer, aber etwas war ... falsch daran. Auf entsetzliche Weise falsch. Er schaute sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht wieder das Gesicht einer alten Frau, dann zerplatzte die Illusion abermals. Torian stöhnte.

»Du solltest dich wirklich hinlegen«, riet Ayla. Sie klang jetzt wirklich besorgt – aber etwas an dieser Sorge war nicht richtig. Es war keine Sorge, die ihm galt. »Ruh dich aus, Torian. Ich rufe jemanden, der dir hilft.«

»Nein!« sagte – nein, schrie – Torian. Ayla riß verblüfft die Augen auf, und Torian versuchte, seinen ungewollt scharfen Ton durch ein hastiges Lächeln zu mildern. »Ich ... brauche vielleicht einfach nur ein wenig frische Luft«, gab er vor und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür zurück. »Ich gehe noch ein wenig zum See hinunter. Nicht lange.«

Ayla sah ihn nachdenklich an. Dann, nach einer geraumen Weile, nickte sie. Sie lächelte wieder, aber ihr Blick blieb ernst. Torian war nicht sicher, ob der Ausdruck in ihren schmalen Augen Sorge oder etwas völlig anderes war. »Tu das«, stimmte sie zu. »Ich hole dich, sobald das Fest beginnt.«

Torian floh mehr aus der Hütte, als er ging. Im Sturmschritt durchquerte er den Ort und lief die wenigen Dutzend Schritte bis zum Ufer des kleinen Sees hinunter. Aber selbst dort angekommen, fand er keine Ruhe, zumindest nicht sofort. Alles in ihm war aufgewühlt, seine Gefühle ein tobender Ozean, ohne daß er überhaupt sagen konnte, was es war, das ihn so erregte.

Fast gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Was war nur mit ihm los? War er schon so sehr daran gewöhnt, immerzu zu kämpfen und davonzulaufen, daß er vielleicht gar nicht mehr in der Lage war, echte Gefühle zu genießen? War er vielleicht einfach nicht mehr fähig, jemandem zu vertrauen, uneingeschränkt und blind zu vertrauen, wie es Menschen, die sich lieben, nun einmal tun? Oder...

Ja, dachte er, plötzlich ganz ruhig, oder stimmte hier wirklich etwas nicht?

Mit erzwungen ruhigen Schritten ging Torian zu einem der rundgeschliffenen Felsen, die das Ufer des kleinen Sees säumten, und setzte sich darauf. Es war derselbe Felsen, auf dem er vorgestern gesessen und mit Ayla geredet hatte, während sie Garth und Shyleen zusahen, die im Wasser tollten, und die Erinnerung an diese kurze Szene stieg rasch und bitter in Torian auf. Er kam sich schäbig vor, und er schämte sich seiner eigenen Gefühle, denn Ayla und ihrer Aufrichtigkeit zu mißtrauen, das bedeutete gleichzeitig – ob er es wollte oder nicht – an Shyleens und Garth’ Glück zu zweifeln. Wenn falsch war, was er erlebte, war auch falsch, was sie erlebten, und ...

Er spürte, daß seine Gedanken begannen, sich im Kreise zu drehen, und schloß mit einem Stöhnen die Augen. Torian ballte die Fäuste, so fest er konnte, und wartete auf den Schmerz, der ihn ablenken würde. Aber er kam nicht.

Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und starrte auf den See hinab. Sein eigenes Gesicht spiegelte sich auf der Oberfläche des schwarzen Wassers, nicht viel mehr als ein Umriß, in dem das Weiß der Augen wie zwei winzige, weiße Sterne zu leuchten schienen.

Wie die einzigen Sterne auf diesem See.

Es war wie ein Schlag.

Drei, vier Sekunden lang saß Torian einfach da und starrte auf den See hinab, und dann, endlich, begriff er, was mit diesem See nicht stimmte. Vielleicht mit diesem ganzen Tal.

Es gab keine Sterne.

Er wußte, daß der Himmel über ihm voller glitzernder Sterne war, viel mehr und viel klarere Sterne, als er es vom Himmel seiner Heimat her gewohnt war, aber auf dem still daliegenden Wasser spiegelte sich nichts, nicht der winzigste Lichtschimmer!

Torians Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe.

Über ihm prangte das silberweiße Band der Milchstraße wie ein achtlos hingeworfenes Diadem der Götter. Aber der See war leer. Er war leer, weil es am Himmel über ihm in Wahrheit keine Sterne gab. Weil es in Wahrheit überhaupt keinen Himmel über ihm gab!

Und endlich begriff Torian wirklich ...

Noch einmal vergingen drei, vier kostbare Sekunden, ehe es ihm gelang, die ganze schreckliche Tragweite seiner Entdeckung zu verarbeiten, dann fuhr er mit einem Schrei herum und rannte los, auf das Dorf und den lodernden Feuerschein in seiner Mitte zu. Er mußte Garth und Shyleen warnen, ihnen sagen, daß ...