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Er kam nur wenige Schritte weit.

Die Gestalten lösten sich aus den Schatten der Bäume, die keine Bäume waren, traten auf den Weg hinaus, der kein Weg war, und bildeten eine Mauer aus Leibern zwischen ihm und dem Dorf, das keines war.

Es waren viele, ein Dutzend, vielleicht anderthalb, und obwohl sie waffenlos waren, spürte Torian die stumme Drohung, die von ihnen ausging. Er wich einen Schritt zurück, hörte ein Rascheln und Schleifen hinter sich und wußte, daß die ewige Nacht hier unten nun auch hinter seinem Rücken Gestalten ausgespieen hatte, mörderische Schatten, die nur in der Wirklichkeit lebten und verblassen würden, sobald er sich der Verlockung der Träume wieder hingeben würde.

Aber das konnte er nicht. Er hätte es nicht einmal mehr gekonnt, wenn er es gewollt hätte.

Einer der Schatten trat langsam auf ihn zu und wurde von einem flachen Schemen zu einer Gestalt. Ayla. Die Ayla aus seinem Traum, der Wirklichkeit war, nicht die Ayla der Wirklichkeit, die Illusion gewesen war.

»Tu es nicht, Torian Carr Conn«, krächzte sie. Ihre Stimme war ein heiseres Fisteln, verzerrt und kaum mehr menschlich, kaum mehr zu verstehen. Allein ihr Klang ließ Torian einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Er war plötzlich fast froh, ihr Gesicht nicht genau erkennen zu können.

»Du würdest deine Freunde töten, wenn du versuchtest, sie zu warnen.«

Torian starrte sie an. Er wollte etwas erwidern, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. Plötzlich dachte er an all die Stunden, die er mit Ayla verbracht hatte, an all die Dinge, die sie miteinander getan hatten, und ein Gefühl unbeschreiblichen Entsetzens stieg in ihm auf. Kein Ekel, kein Widerwillen, nichts von dem, was er erwartete, sondern nur Entsetzen.

»Wer seid ihr?« flüsterte er.

»Die Laa«, antwortete Ayla. »Das verlorene Volk. Suchende wie ihr, die einem Traum gefolgt sind.«

»Wer bist du?« keuchte Tonan. »Ayla, wer —«

»Ich bin Ayla«, antwortete Ayla. »Die Ayla, die du kennengelernt hast. Ich ...« Sie stockte, machte eine vage Handbewegung, deren genaue Bedeutung Torian nicht erkannte, und fügte etwas leiser hinzu: »...wie sie. Wie wir alle. Wie auch du und deine Freunde.«

»Dann war alles ... Lüge?« stammelte Torian. »Alles nur Illusion? Alles, was –«

»Nein«, unterbrach ihn Ayla. Obgleich ihre Stimme noch immer dieses entsetzliche Keuchen und Kreischen war, glaubte Torian doch so etwas wie echte Trauer darin zu erkennen, ein Bedauern, das ihm galt und zwar ohne Gnade, aber nichtsdestoweniger echt war.

»Nein«, bekräftigte Ayla noch einmal. »Nichts war erlogen, Torian. Ich war Ayla, als ich hierherkam, so wie alle anderen die waren, als die du sie kennengelernt hast. Wir waren wie du. Auch wir waren auf der Suche nach der Unsterblichkeit. Dem großen Traum der Menschen — und nicht nur der Menschen. Unsterblichkeit. Das ewige Leben.« Sie lachte bitter. »Unsterblichkeit«, wiederholte sie noch einmal.

»Aber warum?« murmelte Torian. Er machte einen Schritt auf Ayla zu, und die Mauer der Schatten kam näher. Torian blieb wieder stehen. »Warum, Ayla?« fragte er ein zweites Mal. »Warum ... tut ihr uns das an?«

»Nicht wir sind es, die euch all diese Dinge antun«, widersprach Ayla. »Ihr selbst seid es.« Sie machte eine heftige Handbewegung. »Die Unsterblichkeit ist hier«, sagte sie. »Begreif doch! Dies ist der Tempel der Unsterblichkeit. Ich bin seit Jahrzehnten hier, so wie andere seit Jahrhunderten und wieder andere seit Jahrtausenden. Und auch ihr werdet bleiben.«

Alles in Torian weigerte sich, zu glauben, was er hörte. Es war unmöglich. UNMÖGLICH! Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte!

»Das ist eine Falle«, behauptete er. Ayla widersprach nicht, und so fuhr er fort: »Es ist die letzte Falle, nicht wahr? Ich meine, ihr alle habt den gleichen Weg hinter euch gebracht wie wir. Ihr habt das Pflanzenmonster besiegt, ihr seid dem Gras entkommen und den Echsen, und ihr habt auch die Stadt überlebt. Aber das, was ihr gesucht habt, gibt es hier in Wahrheit nicht, hat es nie gegeben. Die Kristallfürstin, ihr Geheimnis –das ist alles nur Legende.«

Ayla antwortete noch immer nicht, und Torian wertete ihr Schweigen als Zustimmung. Plötzlich sah er alles ganz deutlich vor sich: Ayla und all diese anderen Zerrbilder ihres früheren Selbst waren wie sie gewesen, die Zähesten der Zähen, die alle Gefahren irgendwie gemeistert und den Tempel der Unsterblichkeit — fast — gefunden hatten. Aber es gab eine letzte Falle, und in dieser waren sie alle hängengeblieben: diesen Ort. Seine Gefahren waren nicht tödlich. Er vernichtete seine Opfer nicht, sondern lullte sie in einem Netz von Illusionen ein, er tötete nicht, sondern besänftigte, wie ein Gift, das seine Opfer nicht umbringt, sondern zu lallenden Idioten macht.

»Wir alle haben bekommen, was wir wollten, nicht wahr?« fuhr er fort, als Ayla immer noch schwieg und ihn nur weiter stumm und voller Trauer ansah. »Garth hat Shyleen bekommen, Shyleen die Macht, die sie sich immer gewünscht hat. Und ich habe dich bekommen.« Seine Stimme wurde bitter. »Aber es ist doch nichts als Illusion.« Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Das hier ist die Wirklichkeit. Diese ... diese Höhle, Ayla. Dieses stinkende Loch. Eure verfallenden Körper. Euer ...«

»Du verstehst nichts«, unterbrach ihn Ayla sanft. »Was ist Illusion, was Wirklichkeit? Was ist schlimm daran, sich einem Traum hinzugeben, wenn dich dieser Traum glücklich macht?«

»Die Tatsache, daß du irgendwann einmal erwachst«, antwortete Torian.

»Hier nicht«, widersprach Ayla. »Du hast uns gesehen, wie wir wirklich sind, Torian. Ja, dein Traum heute Nacht war die Wahrheit. Jetzt ist die Wahrheit. Wir sind erwacht, aber nur für einen kurzen Augenblick.«

»Und nur, um mich daran zu hindern, auch Garth und Shyleen aufzuwecken, nicht wahr?« fragte Torian.

Ayla nickte. »Du würdest alles zerstören«, warnte sie.

»Ich würde sie retten!« widersprach Torian heftig.

»Aber du hast nicht das Recht dazu«, beharrte Ayla. »Du hast kein Recht, ihnen ihre Träume zu stehlen, Torian. Niemand hat dieses Recht. Du hast es selbst gesagt – alles, was Garth sich wünschte, war Shyleen. Er hat sie bekommen. Und alles was Shyleen sich je wünschte, war Macht. Sie wird sie bekommen, sobald sie zu unserer Königin gekrönt ist.«

»Und alles, was ich bekomme, bist du?«

Ayla lächelte. Sie wirkte verletzt, aber nicht gekränkt. »Ich kann Lady Lyn für dich sein«, gab sie ihm zu bedenken. »Oder irgendeine andere Frau, die du dir wünschst.«

Und für einen Moment wollte er es wirklich. Für den Bruchteil einer Sekunde zerlief ihr Schattengesicht und formte sich zu den engelsgleichen Zügen Lady Lyns, der einzigen Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte, und für die gleiche Zeitspanne wollte er es.

Aber es war eine Illusion. Nichts als ein Traum, und er würde es immer wissen. Er war kein Mann, der Träume lieben konnte.

»Nein«, sagte er hart. »Ihr belügt euch selbst, Ayla. Ihr seid nicht unsterblich. Seht euch an. Ihr seid alt. Ihr seid krank. Ihr sterbt. Wahrscheinlich zehnmal schneller als wir.«

»Das stimmt«, gestand Ayla mit erstaunlicher Offenheit. »Unser wirkliches Leben hier unten zählt nach Monaten, nicht einmal nach Jahren. Aber was macht das? In unseren Träumen leben wir Jahrtausende, und wir altern nur, wenn wir aufwachen. Die Zeit verliert jede Wirkung. Wir erträumen uns die Unsterblichkeit. Eine Nacht ist wie hundert Jahre, wie tausend, wenn du willst. Du wirst ewig leben, wenn du willst, und schnell sterben, wenn du des Lebens überdrüssig bist.« Sie lächelte. »Gefällt dir diese Welt nicht? Dann erträume dir eine andere, Torian. Ich zeige dir, wie man es macht.«