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Er kraulte noch schneller, und für einige kurze Augenblicke sah es fast so aus, als könnte er es schaffen. Der See war nicht besonders breit an dieser Stelle und das jenseitige Ufer kam jetzt schnell näher.

Torian war vielleicht noch fünf oder sechs Züge davon entfernt, als etwas wie eine schwarze Schlange vor ihm aus dem Wasser brach. Instinktiv warf er sich zur Seite und herum, schluckte Wasser und kam hustend und würgend wieder nach oben — und sah sich einer zweiten Schlange gegenüber, dann einer dritten, vierten, fünften – bis er begriff, daß es keine Schlangen waren.

Es waren Fangarme.

Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn Torian hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sich einer der schwarzen Tentakel um seine Hüfte wickelte und ihn festhielt. Ein zweiter, schlangelnder Arm glitt durch das Wasser auf ihn zu und tastete nach seinen Beinen.

Das Ding am dem Berg! dachte er entsetzt. Es war keine Krake, es war das Monster aus dem Berg, dessen Nervenfäden dieses ganze Tal umfaßten, und das sie die ganze Zeit über beobachtet hatte!

Sie hatten den Tempel der Unsterblichkeit gefunden. Das Tor hatte sie nicht in seine Nähe, sondern unmittelbar in sein Herz geschleudert, und Ayla hatte die Wahrheit gesagt: Dies hier war die einzige Unsterblichkeit, die sie finden konnten, die Ewigkeit der Träume.

Torian schrie in höchster Todesangst auf und warf sich herum. Der Griff des Tentakels lockerte sich für einen winzigen Moment und verstärkte sich dann wieder, und plötzlich fühlte er sich auch an den Beinen gepackt. Etwas wie eine weiche, aber unmenschlich starke Hand ergriff sein Fußgelenk und zerrte daran, etwas anderes, trockenes, übermenschlich Starkes begann, seine Waden emporzukriechen...

Torian kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung, aber gegen den Giganten im Wasser hatte er keine Chance. Langsam, unendlich langsam, aber unbarmherzig, wurde er in die Tiefe hinabgezogen.

Das letzte, was er sah und hörte, war Aylas schreckverzerrtes Gesicht und ihre Stimme, die wieder und immer wieder schrie: »Komm zu uns, Torian! Noch kannst du es! KOMM ZU UNS!«

Aber er kam nicht einmal mehr dazu, auch nur in Gedanken zu antworten.

Das Wasser schlug wie eine eisige Decke über ihm zusammen. Dunkelheit hüllte ihn ein, und seine Lungen begannen schon nach Sekunden zu brennen. Dem pressenden Tentakel um seine Brust gesellte sich ein zweiter, unsichtbarer Reif hinzu, ein Ring aus purem Schmerz, der sich unbarmherzig zusammenzog und ihn dazu zwingen wollte, den Mund zu öffnen und Atem zu holen, auch wenn dies den sicheren Tod bedeutete. Feurige Kreise begannen, vor seinen Augen zu tanzen, und er wußte, daß er den Druck nur noch Sekunden aushallen würde.

Er spürte, wie seine Sinne zu schwinden begannen.

»Komm zu uns!« glaubte er noch einmal Aylas Stimme zu hören. Es war ihm klar, was sie meinte. Er brauchte nur die Augen zu schließen und sich in die Welt der Träume zu flüchten. Die Zeit würde bedeutungslos werden und ...

Nein! schrie etwas in seinem Innern voller panischer Angst. Lieber würde er sterben, jetzt und hier, als ein ewiges Schattenleben zu führen, in jenem düsteren Traumreich zwischen Leben und Tod. Aber er wußte auch, daß er den Kampf gegen die verlockende Illusion verlieren würde, ebenso wie den gegen das Ungeheuer in dem See. Noch war er Herr über seine Gedanken, aber in dem winzigen Moment, bevor er starb, würde er seinen freien Willen verlieren und sich selbst aufgeben.

Noch einmal griff Torian nach einem der Tentakel und stemmte sich mit bereits kraftlosem Griff gegen den mörderischen Druck – und dann hielt er ein Stück des Fangarms plötzlich in der Hand. Bewegungen waren mit einem Mal um ihn herum. Gestalten, die er in dem trüben, aufgewühlten Wasser nur als düstere Schemen wahrnahm und im ersten Moment für eingebildete Schatten hielt, Trugbilder, vielleicht Vorboten des nahenden Todes.

Aber dann entdeckte er inmitten der trüben Schwärze etwas Grünliches, und er begriff, daß die Gestalten real, und das, was er sah, hornige Panzerschuppen waren. Die feurigen Kreise vor seinen Augen drehten sich immer schneller, und er wußte, daß es nur noch Sekunden dauern konnte, bis er das Bewußtsein verlieren und für immer in Aylas schreckliches Schattenreich eingehen würde, aber das unverhoffte Auftauchen der Echsen weckte noch einmal Kraftreserven in ihm, von denen Torian selbst nichts geahnt hatte.

Er stemmte sich gegen den letzten Tentakel, der noch um seine Brust lag – und plötzlich war er frei. Irgendwo, entsetzlich weit über ihm, befand sich die Wasseroberfläche. Torian machte einige unbeholfene Schwimmbewegungen und erkannte, daß er auf diese Weise niemals rechtzeitig würde auftauchen können. Sein Brustkorb schien zu platzen, als eine der Echsen ihn von hinten umklammerte und pfeilschnell mit ihm in die Höhe schoß.

Und dann war es vorbei.

Torian riß den Mund auf und atmete. Gierig schnappte er nach Luft, in tiefen, rasend schnellen Zügen, zwischen denen kaum Zeit zum Ausatmen blieb. Immer wieder drang ihm ein Schwall fauligen, nach Moder und Blut schmeckenden Wassers in Mund und Nase und ließ ihn würgen. Nur undeutlich nahm er wahr, daß die Echse ihn weiter in Richtung zum Ufer schleppte. Gleichzeitig kämpfte er weiterhin gegen die Ohnmacht an, die seine Sinne zu umnebeln versuchte. Er wußte, daß er das Bewußtsein nicht verlieren durfte; nicht in seinem jetzigen Zustand, oder er würde nie mehr wieder aufwachen. Ayla hatte noch zuviel Macht über ihn, und wenn er schlief, würde er nicht mehr genügend Kraft aufbringen, ihren Träumen weiterhin zu widerstehen.

Dazu kam, daß er nicht wußte, was die Echsen mit ihm vorhatten. Zwar war er von ihnen vor dem Ungeheuer im See gerettet worden, aber das mußte noch lange nicht bedeuten, daß sie ihm sonderlich wohlgesonnen waren.

Sie erreichten das Ufer. Der Echsenkrieger nahm Torian hoch und trug ihn weiter. Erst als sie ein ganzes Stück vom See entfernt waren, ließ er ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Ganz langsam beruhigte sich Torians Atem, und der stechende Schmerz in seiner Lunge ließ nach. Am liebsten wäre er noch liegengeblieben, um sich ganz zu erholen, aber stattdessen stemmte er sich mühsam in die Höhe und schaute sich um.

Mehr als ein Dutzend Echsen standen um ihn herum. Einige von ihnen waren verletzt. Der Kampf gegen das Ding im See hatte auch von ihnen Opfer gefordert, und Torian konnte nicht einmal ahnen, wieviele von ihnen überhaupt nicht mehr aus dem Wasser zurückgekehrt waren. Schwankend kam er ganz auf die Beine und schaute die Echsen der Reihe nach an. Aus intelligenten Augen erwiderten sie seinen Blick und bestätigten seine schon beim ersten Zusammentreffen gehegte Vermutung, daß sie keineswegs nur wilde Tiere waren. Eines der geschuppten Reptiliengesichter sah für ihn aus wie das andere, und es war ihm unmöglich, irgendeine Gefühlsregung darin abzulesen. Trotzdem war er sich sicher, daß die Haltung der Echsen keine Feindseligkeit ausdrückte.

Eine besonders große Gestalt trat auf ihn zu. Etwas an ihr kam Torian bekannt vor, doch erst als er das Dreieck mit dem stilisierten Auge darin auf ihrem Lederwams sah, erinnerte er sich, daß es die Echse war, gegen die er auf der Brücke gekämpft hatte. Sie stieß einige zischende, unangenehm schrille Laute aus. Erst nach Sekunden begriff Torian, daß es Worte waren – fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt zwar, aber zweifellos Worte.

»Du ... du sprichst!« stieß er ungläubig hervor.

Der Echsenkrieger nickte. »Hab keine Angst«, sagte er zischend. »Ich heiße Ssain. Wir sind nicht deine Feinde, Torian Carr Conn.«

Erneut lief ein Schauer über Torians Rücken. »Woher ...?«

»Wir beobachten euch, seit ihr hergekommen seid, und eine Weile haben wir euch auch belauscht.« Ssain machte eine kurze Pause und schaute Torian unsicher an, als wollte er sich vergewissern, daß seine Worte ihn nicht erzürnten. Aber Torian war viel zu müde, als daß dieses harmlose Geständnis irgendein Gefühl in ihm hätte hervorrufen können. Er mußte seine ganze Konzentration aufbringen, um den Echsenkrieger überhaupt zu verstehen. »Zwei unserer Späher entdeckten euch als erste«, sprach Ssain weiter. »Sie entwaffneten dich, bevor ihr euch im Todesnebel selbst gegenseitig umbringen konntet. An der Brücke haben wir versucht, euch zurückzuhalten, bevor ihr den Laa in die Falle gehen konntet, aber ihr habt uns sofort angegriffen. Ich habe noch versucht, dich zu retten, bevor du in den Fluß stürztest.«