Torian erinnerte sich, daß er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt hatte, der Gigant wolle ihn vor dem Sturz bewahren, aber er hatte es für Einbildung gehalten. Jetzt, da er mehr über die wahren Hintergründe wußte, erschien vieles in ganz anderem Licht.
»Der Überfall auf das Dorf«, murmelte er. »Ihr habt versucht, uns zu befreien, nicht wahr?«
»Wie wir es schon so oft versucht haben«, bestätigte Ssain. »Jedesmal, wenn Fremde herkommen. Aber sie haben nie begriffen, sowenig wie ihr. Auch wir kamen vor langer Zeit auf der Jagd nach der Unsterblichkeit in dieses Tal. Aber wir waren die ersten, die erkannten, welchen Preis wir dafür hätten zahlen müssen. Seither unternehmen die Laa alles, um uns zu vernichten.«
Das Denken fiel Torian noch immer schwer. Die Müdigkeit hüllte seinen Geist wie ein klebriges Spinnennetz ein. Nur mit Mühe konnte er das Gehörte verarbeiten. Das Gespräch kam ihm immer absurder vor. Einen Herzschlag lang fragte er sich ernsthaft, ob es überhaupt wirklich stattfand. Vielleicht war in Wahrheit längst das geschehen, was er unter allen Umständen hatte verhindern wollen: Er hatte seine Rettung nur geträumt, und dies war nur eine Traumwelt, die er sich selbst erschaffen hatte; anders als die von Ayla, aber ebenso wenig real.
Er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, weil er befürchtete, sonst den Verstand zu verlieren. An irgend etwas mußte er glauben, wollte er nicht wahnsinnig werden.
»Garth«, murmelte er. »Garth und Shyleen. Ich muß sie finden und ihnen die Wahrheit sagen.«
»Nein«, zischte Ssain erschrocken. »Du kannst nicht zurück. Die Laa würden dich töten. Du würdest in deinem Zustand keinen Kampf gegen sie mehr durchstehen. Und selbst wenn du an ihnen vorbeikämst, könntest du deinen Freunden nicht helfen. Sie würden nicht auf dich hören. Sie sind längst schon viel zu tief in ihre Träume verstrickt, um sich noch daraus befreien zu können, selbst wenn sie es wollten.«
»Aber ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen«, erwiderte Torian verzweifelt. »Sie sind noch nicht verloren, ich weiß es.« Flehend schaute er den Echsenkrieger an. »Mit eurer Hilfe kann ich bis zu ihnen ...«
»Nein!« Ssain schrie das Wort beinahe und schaute Torian entsetzt an. »Das... geht nicht«, fügte er gleich darauf etwas ruhiger hinzu. »Auf gar keinen Fall. Nicht heute.«
»Nicht heute?« wiederholte Torian stirnrunzelnd. Dann verstand er. »Der Siegestag«, sagte er leise.
»In dieser Hinsicht haben die Laa die Wahrheit gesprochen«, bestätigte Ssain. »Zwar sind wir nicht hilflos, aber es ist ein heiliger Tag für uns. Deshalb fliehen wir an diesem Tag vor den Laa, weil wir unseren Göttern gelobt haben, nicht zu kämpfen.«
»Aber ihr habt doch gerade gekämpft. Ihr habt mich ...«
»Das Monstrum im See ist kein lebendes Wesen«, unterbrach ihn Ssain in einem Tonfall, der zeigte, daß jeder weitere Widerspruch sinnlos war. »Es ist ein totes Ding, nicht mehr. Aber die Laa leben. Wir dürfen nicht gegen sie kämpfen. Bleib bis morgen bei uns, dann werden wir dir helfen. Vielleicht haben wir gemeinsam eine kleine Chance.«
Das Angebot war verlockend. Torian dachte einige Sekunden ernsthaft darüber nach, dennoch schüttelte er schließlich den Kopf. »Es geht nicht«, entschied er gequält. Die Gefahr war zu groß. Er wußte nicht, was geschehen würde, wenn er einschlief, und er konnte nicht die ganze Nacht hindurch wach bleiben.
Aber das war es nicht allein. Etwas sagte ihm, daß ihm keine Zeit mehr bis zum nächsten Morgen bleiben würde. Er war sich plötzlich sicher, daß die Laa Shyleens Krönung keineswegs zufällig auf diesen Abend gelegt hatten. Es war nicht nur irgendein sinnloses Ritual, sondern die Erfüllung ihres innigsten Wunsches, auch wenn sie selbst vielleicht sich dessen nicht einmal bewußt war und ihn tief in ihrem Inneren vergraben hatte. Aber anschließend würde es für sie wirklich keine Rückkehr mehr geben, und wahrscheinlich auch nicht für Garth. Er mußte die beiden warnen.
»Dann mußt du alleine gehen.« Ssains Stimme klang so ausdruckslos wie vorher, aber Torian glaubte, einen Unterton von Trauer darin zu erkennen. Es war die Art, wie man mit einem Todgeweihten sprach, durchfuhr es ihn. Er zögerte noch einige Sekunden und ließ seinen Blick über die Gesichter der Echsenkrieger gleiten, dann wandte er sich mit einem übertrieben heftigen Ruck um und stürmte ohne ein weiteres Wort davon. Er wußte, wie undankbar sein Verhalten erscheinen mußte, aber er war sich auch im klaren, daß er nachgeben und seinen Aufbruch bis zum nächsten Tag verschieben würde, wenn er noch eine einzige Sekunde länger wartete.
Er lief nur ein kurzes Stück und ging dann langsamer, aber selbst das Gehen fiel ihm schwer. Seine Beine schmerzten. Tonnenschwere Gewichte schienen an seinen Füßen zu hängen und mit jedem Schritt schwerer zu werden, und schon nach ein paar Minuten war er schweißüberströmt. Dennoch quälte sich Torian weiter voran. Er mußte den ganzen See umrunden, was einen Fußmarsch von mindestens zwei, eher sogar drei Stunden bedeutete – falls er das Dorf überhaupt erreichte. Er hatte die Grenzen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit längst überschritten und hielt sich nur noch mit der puren Kraft seines Willens aufrecht. Trotz der Erschöpfung gönnte er sich keine Pause. Jede Minute war kostbar. Schon jetzt hatte er kaum noch eine Chance, rechtzeitig zu kommen, doch er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Es mußte ihm einfach gelingen.
Torian folgte dem Verlauf des Ufers, achtete jedoch sorgsam darauf, mindestens fünf, sechs Meter Abstand zum See zu halten. Manchmal glaubte er, dicht unter der Wasseroberfläche einen gewaltigen, schwarzen Schatten von unbestimmbarer Form zu erkennen, und dieser Anblick trieb ihn an, noch schneller zu gehen.
Wenn nur diese entsetzliche Müdigkeit nicht wäre!
Längst schon waren seine Bewegungen in ein mühsames Taumeln übergegangen. In seinen Ohren war ein so lautes Rauschen, daß er kaum glauben konnte, daß es sich nur um sein eigenes Blut handelte. Manchmal glaubte er, eine Gestalt an seiner Seite zu spüren: den Schlaf, der zu seinem stummen, unsichtbaren Begleiter geworden war und nach ihm zu greifen versuchte. Immer häufiger spielte Torian mit dem Gedanken, wenigstens für ein paar Sekunden Rast zu machen, und einmal ertappte er sich sogar dabei, daß er zu Boden gesunken war, während er sich einbildete, immer noch in Bewegung zu sein.
Nein! dachte er entsetzt und riß die Augen auf. Er dachte an Garth und Shyleen, und der Gedanke gab ihm die nötige Kraft, sich wieder auf die Beine zu quälen. Er durfte sich nicht setzen, und schon gar nicht durfte er die Augen schließen, auch nicht für ein paar Sekunden, denn dann würde er einschlafen. Er mußte weiter.
Weiter! hämmerte er sich ein. Weiter, weiter, weiter, und im Rhythmus des Wortes setzte er einen Fuß vor den anderen.
In endloser Langsamkeit verstrichen die Minuten. Jede einzelne dehnte sich für Torian zu Stunden. Immerhin war er mittlerweile so weit, daß er die Schmerzen in seinen Beinen schon nicht mehr spürte. Aber er war immer noch müde. Wie eine monotone, sich ständig wiederholende Litanei spukte das Wort durch seinen Kopf.
Er war müde. Er war so müde. So ... müde.
So ... mü ... de.
So ...
Epilog
Der Tag versprach schön zu werden – über den Bergen im Osten zeigte sich das Rot der aufgehenden Sonne als schmaler, lodernder Streifen, der die Gipfel in ein verwirrendes Muster aus Schatten und allen nur denkbaren Rot- und Orangetönen tauchte, und selbst der Wind, der die Flanken des Gebirges herabwehte, war warm.