Der kurze Moment der Unaufmerksamkeit hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet. Der Krieger zu seiner Rechten sprang mit einem gellenden Schrei vor und schlug nach seinem Kopf; gleichzeitig führte der andere einen geraden Stich zu seiner Kehle aus. Torian drehte sich blitzschnell zur Seite, wich dem Hieb um Haaresbreite aus, schlug das Schwert herab und griff gleichzeitig mit der bloßen Hand nach der Klinge, die nach seiner Kehle züngelte. Der rasiermesserscharf geschliffene Stahl schnitt grausam in seine Handfläche, aber die Bewegung überraschte den Mann auch so vollkommen, daß es Torian gelang, ihm die Waffe mit einem harten Ruck zu entreißen. Der Krieger krächzte, starrte betroffen auf seine plötzlich leeren Hände und brach in die Knie, als Torian ihm in den Leib trat. Gleichzeitig traf Torians Klinge den Oberschenkel des letzten Kriegers, zerschnitt den Panzer, der an dieser Stelle dünner war, und ließ ihn mit einem Schmerzensschrei zu Boden sinken.
Torian keuchte, taumelte gegen die Wand und blieb eine Sekunde lang schweratmend stehen. Sein Herz jagte. Das Schwert in seiner Hand schien plötzlich Zentner zu wiegen, und er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um es nicht fallen zu lassen. Wieder begann sich der Hof um ihn herum zu drehen, und wie immer nach einem Kampf spürte er erst jetzt, wie sehr ihn die wenigen Augenblicke angestrengt hatten. Mit zitternden Händen schob er das Schwert in den Gürtel zurück, torkelte zu Garth hinüber und sank neben ihm auf die Knie.
Garth sah auf. Sein Blick flackerte, und Torian las einen Ausdruck von Furcht darin, der ihn selbst schaudern ließ. Seine Lippen zitterten. »Ihr Götter...«, stammelte er. »Was... wie... wie hast du das gemacht?«
Torian ignorierte seine Worte. »Kannst du aufstehen?« fragte er Riesen hastig.
»Wer bist du?« keuchte Garth. »Du...« Er stockte, starrte Torian mit neu erwachendem Schrecken an und sog hörbar die Luft ein. »Torian...«, murmelte er. »Du... bist Torian, der...«
»Torian, der Tote, wenn wir nicht sofort von hier verschwinden«, fiel ihm Torian ungeduldig ins Wort. Gehetzt blickte er sich um. Der Hof war noch immer leer, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, ehe weitere Krieger auftauchten. Der Kampf hatte nur wenige Augenblicke gedauert, aber sein Lärm mußte gehört worden sein. Unsanft zerrte er Garth auf die Füße, drückte ihm sein Schwert in die Hand und stieß ihn vor sich her auf die erstbeste Tür zu. Der Hof war wie der Turm in seinem Zentrum sechseckig angelegt, und in jeder seiner sechs Seitenwände gab es ein großes, geschlossenes Tor. Aber die Mauern waren nicht glatt, sondern durchbrochen von zahllosen kleinen und größeren Gebäuden, die mit ihrer Architektur verwachsen waren. Auf eines dieser Gebäude steuerte Torian zu. Selbst wenn es von dort keinen Weg nach draußen gab, wurden sie wenigstens nicht sofort gesehen, wenn hier der Teufel losbrach. Torian versuchte erst gar nicht mehr, leise zu sein, sondern trat die Tür kurzentschlossen ein und setzte mit einem Sprung in den darunterliegenden Raum. Er war leer, aber es gab eine Tür, die tiefer in das Gebäude hineinführte, und nur mit einem Vorhang verschlossen war. Torian warf sich mit einem federnden Satz hindurch, kam auf der anderen Seite mit einer eleganten Rolle wieder auf die Füße und drehte sich kampfbereit einmal um seine Achse.
Aber auch hier war keine Spur von Leben zu entdecken. Torian ließ erleichtert seine Waffe sinken, ging zur Tür zurück und gab Garth mit Gesten zu verstehen, daß er ihm folgen konnte. Hastig legte er den Zeigefinger auf die Lippen, deutete auf die schmale, geländerlose Treppe am Ende des Zimmers und dann nach oben. Garth nickte stumm, ließ sich erschöpft gegen die Wand sinken und lauschte einen Moment; ebenso wie er.
»Da scheint niemand zu sein«, murmelte Garth nach einer Weile. Etwas lauter fügte er hinzu: »Das Gebäude muß verlassen sein. Wäre jemand hier, dann hätte er den Kampflärm gehört.« Er nickte aufmunternd, gab sich einen sichtlichen Ruck und wollte auf die Treppe zugehen, aber Torian hielt ihn mit einem energischen Kopfschütteln zurück.
»Vielleicht hat er es gehört und wartet jetzt mit einem gespannten Bogen in der Hand auf den ersten, der die Treppe hinaufsteigt«, knurrte er. »Warte hier. Und paß auf, daß niemand kommt.«
»Und wenn doch?« fragte Garth dümmlich.
Torian verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort, deutete noch einmal bekräftigend auf die Tür und drang mit gezücktem Schwert tiefer in das Gebäude ein.
Das Haus erwies sich als größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte – es gab gut ein Dutzend verschiedener Räume, allein auf dieser einen, unteren Ebene, und sie waren – wie der Turm, den sie durchsucht hatten – zwar durchaus wohnlich eingerichtet, vermochten ihren Festungscharakter aber doch nicht ganz zu verleugnen. Torian fand eine große Zahl von Lebensmitteln und Wasser – und Waffen. Sehr viele Waffen. Dieses steinerne Sechseck im Herzen der Stadt war eine Fluchtburg. Und sie machte ganz den Eindruck, als rechneten ihre Besitzer ernsthaft damit, sie in naher Zukunft benutzen zu müssen.
Was er nicht fand, war ein Ausgang. Die einzige Tür war die, durch die sie hereingekommen waren. Die rückwärtigen Mauern des Gebäudes waren fensterlos und aus metergroßen, beinahe fugenlos aufeinandergesetzten Felsquadern errichtet.
Enttäuscht kehrte er zu Garth zurück. Der Dieb sah ihm fragend entgegen, aber Torian schüttelte den Kopf, und Garth drang nicht weiter in ihn. Er hatte wohl auch nicht ernsthaft damit gerechnet, so leicht aus dieser Falle entkommen zu können.
»Und jetzt?«
Torian zuckte unentschlossen mit den Schultern. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder zurück auf den Hof und durch eines der Tore – oder nach oben. Wahrscheinlich führt die Treppe auf den Wehrgang hinauf.«
Garth’ Gesichtsausdruck nach zu schließen, gefiel ihm keine der beiden Möglichkeiten sonderlich. »Dort oben könnten Wachen sein«, entgegnete er.
Torian überlegte. Er konnte sich nicht erinnern, Posten gesehen zu haben, als er oben auf der Turmspitze gestanden hatte – was nicht bedeutete, daß es wirklich keine gab. Aber dieses Risiko mußten sie wohl eingehen.
Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Vom Hof her drang plötzlich ein überraschter Schrei zu ihnen herein, dann hörten sie das harte Trappeln metallbeschlagener Stiefelsohlen. Torian stieß einen Fluch aus, fuhr herum und rannte die Treppe hinauf, ohne noch ein weiteres überflüssiges Wort zu verlieren.
Ein wütender Aufschrei erklang hinter ihnen, als sie die Tür am Ende der Treppe erreicht hatten. Torian sah hastig über die Schulter zurück und gewahrte gleich ein halbes Dutzend der schwarzgekleideten Krieger, die hinter ihnen in den Raum stürmten. Er fluchte, sprengte die schmale Holztür mit der Schulter auf und zwängte sich hindurch, ehe sie noch vollkommen nach innen geschwungen war. Hinter der Tür lag ein vielleicht zwanzig Schritte langer, fensterloser Gang, von dem zahlreiche Türen abzweigten. An seinem Ende waren die ersten Stufen einer weiteren Treppe zu erkennen. So, wie Torian angenommen hatte – die Treppe führte hinauf zur Mauerkrone.
Garth eilte schweratmend hinter ihm heran, blieb stehen und sah einen Moment zu den Verfolgern zurück. Die Treppe dröhnte bereits unter ihren Schritten, und das Haus hallte wider von ihren wütenden Rufen und dem Klirren ihrer Rüstungen. Die Männer mußten bereits dicht hinter ihnen sein. Aber Garth machte keinerlei Anstalten, weiterzulaufen, sondern blieb reglos stehen und sah den Angreifern scheinbar gelassen entgegen.
Dann fuhr er mit einer Behendigkeit, die Torian einem Mann seiner Größe niemals zugetraut hätte – herum, packte die Tür und schmetterte sie mit aller Gewalt ins Schloß.
Ein gellender Schrei drang durch das dünne Holz, gefolgt von einem dumpfen Poltern und Krachen und neuerlichen Schreien. Metall knirschte, und eine dunkle Stimme begann zornig, Befehle zu brüllen.