Lodar zögerte noch immer, wandte sich dann aber – nach einem letzten, wutsprühenden Blick in Garth’ Richtung – doch um und folgte seinem Kameraden. Ihre Schritte verklangen auf dem nackten Fels des Bodens.
Torian wartete, bis er ganz sicher sein konnte, daß die beiden Soldaten nicht mehr in Hörweite waren, ehe er mühsam den Kopf drehte und Garth ansah. Der Dieb hing schlaff in seinen Fesseln. Sein Gesicht war geschwollen und über und über mit Blut beschmiert, und sein Blick wirkte leicht glasig. Aber seine Augen standen offen, und er war wach.
»Wie lange bist du schon bei Bewußtsein?« fragte er.
Garth stöhnte, spuckte Blut und ein Stück eines abgebrochenen Zahnes auf den Boden und versuchte sich aufzurichten. Seine Knie gaben unter dem Gewicht seines Körpers nach, und er sank abermals schlaff in seine Fesseln.
»Lange... genug«, versetzte er stockend. »Jedenfalls lange genug, um zu hören, was dieser sogenannte General gesagt hat. Aber ich hielt es für besser, mich schlafend zu stellen.« Er lachte, leise und röchelnd. Das Geräusch jagte Torian einen eisigen Schauer über den Rücken. »Ich dachte mir, es reicht, wenn einer von uns Prügel bekommt.«
»So? Und warum bettelst du dann so aufdringlich darum?«
Garth versuchte erneut, sich aufzurichten, und diesmal gelang es ihm. Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand und begann die Arme zu bewegen. »Ich habe nicht um Schläge gebettelt«, belehrte er ihn. Seine Hände bewegten sich auf fast unmögliche Weise, und plötzlich – ohne daß Torian sagen konnte, wie – war seine rechte Hand frei, der fingerdicke Eisenring, der sein Gelenk bisher umspannt hatte, leer.
»Was ich haben wollte«, fuhr Garth mit einem verzerrten, aber deutlich triumphierenden Lächeln fort, »war das hier.«
Torian glotzte ungläubig auf den kleinen Schlüssel, der plötzlich in Garth’ Hand lag. »Wie... wie hast du das gemacht?« keuchte er. Garth grinste schmerzlich, öffnete rasch nacheinander auch die zweite Handschelle und die beiden Ringe, die seine Fußgelenke fesselten, und kam taumelnd auf Torian zu. »Ich glaube dir ja gerne, daß du der größte Krieger bist, der jemals unter der Sonne gelebt hat«, sagte er, während er bereits vor Torian niederkniete und sich an seinen Fußfesseln zu schaffen machte. »Aber du solltest mir auch glauben, daß ich der beste Dieb bin, dem du je begegnet bist.«
Torian starrte ihn noch immer fassungslos an, als die letzte Fessel klirrend zu Boden fiel. Plötzlich schwankte er. Jetzt, als er nicht mehr von den Ketten gehalten wurde, spürte er die Schwäche erst richtig. Er wäre gestürzt, wenn Garth ihn nicht aufgefangen hätte. »Ich... ich habe nichts bemerkt«, murmelte er.
Garth grinste. »Das ist auch gut so. Und jetzt frag mich nicht, wie ich es gemacht habe – ich verrate meine Berufsgeheimnisse nicht.«
Er wurde übergangslos ernst. »Was tun wir jetzt? Versuchen wir die Stadt zu verlassen, oder verstecken wir uns?«
Torian massierte seine schmerzenden Gelenke. »Weder das eine noch das andere«, entschied er. Garth blinzelte verwirrt, und Torian fuhr fort: »Sie würden uns in ein paar Stunden wieder fangen, wenn wir in der Stadt blieben. Und ich habe keine Lust, Worns Foltermeister kennenzulernen.«
»Also fliehen wir«, sagte Garth. »Während des Angriffs müßte es möglich sein...«
»Mitten in eine Schlacht zu geraten oder von den anderen als Spione gefangen zu werden«, fiel ihm Torian ins Wort. »Glaubst du, ich habe Lust, das Gegenstück von General Worn auf der anderen Seite kennenzulernen?«
Garth schluckte ein paarmal. Der Gedanke, daß es ihnen, sollten sie die Stadt verlassen und den Belagerern in die Hände fallen, kaum besser ergehen würde als hier, schien ihm bisher noch nicht gekommen zu sein. Sie waren Fremde, für beide Seiten, und in Kriegszeiten waren Fremde automatisch Feinde. »Und was... hast du vor?« fragte er stockend.
Torian deutete mit einer vagen Geste nach vorne. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Zuerst einmal hier heraus. Und dann...«
»Dann?«
Torian zuckte mit den Achseln, näherte sich dem Gitter und streckte fordernd die Hand aus. Garth reichte ihm den Schlüssel und sah zu, wie er die Arme durch das Gitter zwängte und umständlich den Schlüssel von der anderen Seite ins Schloß zu stecken versuchte. »Zuerst einmal hier heraus«, wiederholte er. »Der Rest findet sich.« Das Schloß sprang mit einem hörbaren Klicken auf. Torian öffnete die Gittertür, trat in den Gang hinaus und spähte mißtrauisch nach vorne. Aber sie waren allein. Der bevorstehende Angriff verschaffte ihnen wenigstens für den Moment Ruhe.
Aber Worn würde wiederkommen. In spätestens einer Stunde. »Komm«, sagte er. »Weg hier.«
Auf dem Weg nach oben begegnete ihnen niemand. Das Labyrinth unterirdischer Katakomben und Stollen, das Rador wie eine Stadt unter der Stadt durchzog, schien ausgestorben zu sein, und mehr als einmal hatte Torian ernsthaft Angst, sich in den endlosen finsteren Gängen zu verirren und nie wieder das Tageslicht zu sehen. Zwei oder dreimal vernahmen sie Stimmen, und einmal hörten sie in geringer Entfernung die Schritte einer ganzen Abteilung der schwergepanzerten Krieger, aber jedesmal konnten sie rechtzeitig in einen Quergang ausweichen oder sich in einen Schatten ducken, so daß sie nicht entdeckt wurden.
Sie brauchten fast eine Stunde, um die Oberfläche zu erreichen. Torian war mit seinen Kräften vollkommen am Ende, als er endlich die letzte einer Million Treppenstufen – wie es ihm vorkam – hinauftaumelte und in einem winzigen, unmöblierten Raum stand, durch dessen verschlossene Fensterläden helles Tageslicht hereinsickerte. Garth kroch die Treppe hinter ihm mehr hinauf, als er ging, und sein Gesicht war bleich wie das eines Toten. Sein Umhang hatte sich über der Schulter dunkel gefärbt. Die Wunde mußte wieder aufgebrochen sein.
»Ich... kann nicht mehr«, keuchte er. »Wir müssen... ausruhen. Nur... einen Moment.«
Torian schüttelte entschieden den Kopf trat ans Fenster und versuchte, durch einen Spalt in den Läden hinauszuspähen.
Viel war es nicht, was er erkennen konnte: ein winziger Ausschnitt einer Straße, ein Teil des gegenüberliegenden Hauses, Menschen, die vorüberhasteten. Aufgeregte Stimmen drangen an sein Ohr, irgendwo donnerte das metallische Stakkato von Pferdehufen über das Pflaster, jemand schrie, hoch und hysterisch. Die Stadt war in Aufruhr.
»Das geht nicht«, erklärte er bedauernd. »Wenn du dich jetzt hinlegst, stehst du nie wieder auf, Garth. Außerdem wird Worn jetzt wahrscheinlich schon wissen, daß wir geflohen sind. Sie werden jeden Stein in der Stadt umdrehen, um uns wieder einzufangen.«
Garth nickte müde, stemmte sich in eine halb sitzende Position hoch und blinzelte zum Fenster. Sein linkes Auge war zugeschwollen. »Was siehst du?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Torian. »Es sind sehr viele Menschen auf der Straße.« Er lächelte flüchtig. »Ihre Kleidung gefällt mir.«
Garth starrte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand.
»Sie scheinen eine Vorliebe für kräftige Farben zu haben«, fuhr Torian mit einer Geste auf seinen und Garth’ grellroten Umhang fort. »Wir werden kaum auffallen. Wenn wir uns unter die Bevölkerung mischen, kann Worn suchen, bis er schwarz wie seine Rüstung ist.«
Garth stemmte sich mühsam hoch, griff sich an den Kopf und fluchte leise. »Ich hoffe, die Garianer hacken ihn und seinen Prügelknecht in Stücke«, murmelte er. »Wer immer sie sind.«
Torian ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Sie bewegte sich quietschend; die Tür öffnete sich ein Stück, und ein dreieckiger Fleck goldenen Sonnenlichtes breitete sich um seine Füße aus.
»Alles in Ordnung«, flüsterte er nach einem prüfenden Blick auf die Straße. »Wir können hinaus.« Er sah Garth an, runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Wisch dir das Gesicht ab. Du erweckst Aufsehen.«
Garth gehorchte schweigend. Torian sah ihm einen Moment zu, trat kopfschüttelnd neben ihn und half ihm, mit einem Zipfel seines Umhanges und reichlich Spucke, das eingetrocknete Blut von seinen Gesichtszügen zu entfernen. Es ging nicht sehr gut, und das Ergebnis stellte ihn alles andere als zufrieden, aber er hoffte, daß in dem allgemeinen Aufruhr, der in den Straßen Radors herrschte, niemand die Zeit fand, sich die Gesichter der beiden Fremden genauer anzusehen.