Yora nickte, drehte sich herum und deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Lücke zwischen zwei Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Bist du verrückt geworden ?« zischte Garth, als sie dem Mädchen folgten und sich hinter ihm einen Weg durch die Menge bahnten. »Was willst du ihm erzählen? Wofür es uns auch hält – wir sind es nicht, Torian.«
»Ich weiß«, antwortete Torian ungeduldig. »Aber es bringt uns hier heraus, Garth. Oder willst du warten, bis die Soldaten uns finden? Worn wird sich sicher freuen, dich wiederzusehen.«
Garth blickte irritiert zu den Kriegern am Ende der Straße hinab und zog es vor, nicht darauf zu antworten.
Es war keine wirkliche Gasse, sondern nur ein schmaler Spalt zwischen zwei Häusern, der nach wenigen Schritten vor einer gemauerten Wand endete, die mehr als zwanzig Fuß weit lotrecht in die Hohe strebte. Unrat und Abfälle stapelten sich am Fuße der Wand; der Boden war schlammig, und ein stechender Geruch schlug Torian und Garth entgegen, als sie dem Mädchen folgten.
Yora schaute noch einmal mit dem gleichen, gehetzten Blick, mit dem sie zu den Soldaten hinübergesehen hatte, zurück, ließ sich ohne ein weiteres Wort auf die Knie sinken und stemmte ächzend eine dreckverkrustete Kiste beiseite, die schräg und wie zufällig an der Mauer lehnte. Dahinter kam ein halbhohes, roh in die Ziegelwand gebrochenes Loch zum Vorschein.
»Schnell jetzt«, forderte sie. »Wir müssen uns beeilen. Die anderen warten.«
»Welche anderen?« fragte Garth mißtrauisch.
Torian warf ihm einen warnenden Blick zu, ließ sich in die Hocke sinken und kroch hinter dem Mädchen durch die Öffnung. Seine Schultern schrammten schmerzhaft über scharfkantigen Stein, und unter seinen Händen und Knien war plötzlich klebriger Morast, und der Abortgestank wurde stärker. Das Loch mußte in die Kanalisation hinabführen.
Torian drängte den Ekel zurück, der in ihm aufsteigen wollte, und kroch hastig hinter dem Mädchen her. Der Gang war in vollständige Dunkelheit getaucht, aber durch die Öffnung in der Wand fiel blasses Licht, so daß er seine Gestalt noch als schemenhaften Umriß erkennen konnte. Yora stand wenige Schritte vor ihm, gebeugt, und gestikulierte ungeduldig mit den Händen. Torian kroch hastig weiter, richtete sich vorsichtig auf, als er neben ihr war, und hob die Hand über den Kopf. Der Gang war hier höher, so daß er wenigstens halbwegs aufrecht stehen konnte, und als er einen Schritt machte, versank er bis über die Knöchel in warmer, klebriger Flüssigkeit, über deren Art er lieber nicht nachdachte.
»Zieh die Kiste wieder vor das Loch«, sagte Yora, als Garth – schnaubend und umständlich und ununterbrochen leise vor sich hinfluchend – seine breiten Schultern durch die Öffnung zu zwängen versuchte. Torian beobachtete ihn mit einer Mischung aus mühsam zurückgehaltener Erheiterung und Sorge. Garth steckte in der Wand wie ein Korken im Flaschenhals und kämpfte sich nur mit äußerster Kraft voran, aber der Anblick war nicht ganz so lustig, wie es im ersten Moment schien. Garth war vielleicht der stärkste Mann, dem Torian jemals begegnet war, aber die Wunde an seiner Schulter hätte einen Schwächeren auch schon vor Tagen umgebracht.
Es schien Stunden zu dauern, bis der Dieb sich durch den Mauerdurchbruch gezwängt und herumgedreht hatte, um den Kistendeckel wieder vor die Öffnung zu ziehen. Einer eingehenden Untersuchung würde diese Tarnung kaum standhalten, das wußte Torian; aber es würde auch noch eine Weile dauern, bis die Soldaten die Straße so weit geräumt hatten, daß sie darangehen konnten, wirklich nach ihnen zu suchen.
»Und jetzt?« fragte er, als Garth endlich bei ihnen angekommen war, sich aufrichtete und prompt mit dem Schädel gegen die niedrige Decke stieß.
Yora deutete mit einer vagen Geste hinter sich. Es war auch jetzt noch nicht vollends dunkeclass="underline" An den Wänden und der Decke wucherten Schimmel und Moder, die einen schwachen, grauweißen Lichtschein verströmten, und irgendwo, sehr weit vor ihnen, war ein münzgroßer Fleck gelblichen, flackernden Lichtes. Ein sanfter Luftzug trug mehr Fäulnisgestank heran. Sie waren in der Kanalisation.
»Die anderen warten dort hinten«, erklärte Yora. »Kommt.« Sie wollte sich umdrehen und gehen, aber diesmal hielt sie Torian mit einem blitzschnellen Griff fest.
»Nicht so rasch«, sagte er. Seine Stimme hallte dumpf in der höhlenartigen Akustik des Ganges wider, und er spürte, wie sich Yora unter seinem Griff wand; ihr schmales Handgelenk knirschte spürbar unter seinen Fingern. Er mußte ihr weh tun. Aber er lockerte seinen Griff nicht, sondern zog sie im Gegenteil noch ein Stück näher an sich heran.
»Zuerst habe ich ein paar Fragen an dich«, begann er.
Yora versuchte, ihren Arm loszureißen. »Bitte, Herr«, stöhnte sie. »Ihr tut mir weh, und wir müssen weg. Die Soldaten werden uns finden.«
»So schnell sind sie nicht hier«, antwortete Torian, lockerte seinen Griff aber nun doch ein wenig, ließ aber noch immer nicht ganz los. »Also, Yora- was willst du von uns, und wer sind diese anderen, die auf uns warten?«
Einen Moment lang wehrte sich das Mädchen noch, dann schien es zu begreifen, wie sinnlos seine Gegenwehr war, und hörte auf, an seinem Arm zu zerren. »Ihr seid die garianischen Spione, hinter denen sie her sind«, sagte sie. »Die Soldaten durchkämmen die ganze Stadt und suchen jedes Haus nach euch ab.«
»Sind wir das?« fragte Garth. Torian winkte ihm unwillig mit der freien Hand zu, zu schweigen.
»Und wenn?« fragte er lauernd. »Wäre es so, dann wären wir eure Feinde, nicht? Warum helft ihr uns dann?«
»Weil wir hinaus wollen«, antwortete Yora. »Ihr allein habt keine Chance, Worns Kriegern zu entkommen. Sie besetzen jeden Ausgang, und er hat die Wachen an den Schlupftoren verdreifachen lassen. Wir... können euch helfen.«
Torian schwieg einen Moment. Die Stimme des Mädchens bebte und schien kurz davorzustehen, vollends zu brechen. Er spürte, wie ihr Körper unter seinen Händen zu zittern begann; sie weinte lautlos vor Angst.
»Aber ihr wollt, daß wir euch mitnehmen, nicht?« fragte er. »Dich und die anderen, die dort vorne auf uns warten.«
Yora nickte. »Ja. Wir... wir wollten die Stadt verlassen, aber sie haben alle Tore gesperrt, und die Garianer töten jeden, der ihnen in die Hände fällt. Wir... wir haben von euch gehört, und Gwayroth hat uns ausgeschickt, um nach euch zu suchen. Ich glaube... ihr habt... ich...« Sie begann zu stammeln, schluchzte plötzlich trocken und mehrmals hintereinander und weinte dann hemmungslos. Torian ließ ihr Handgelenk los und widerstand im letzten Moment der Versuchung, das Mädchen einfach an sich zu drücken und zu trösten, wie man ein weinendes Kind an die Brust preßt. Yoras Worte überraschten ihn nicht sehr; er hatte so etwas erwartet im selben Moment, in dem sie sie draußen auf der Straße angesprochen hatte. Rador würde untergehen, und die Menschen in seinen Mauern spürten es instinktiv. Und sie hatten Angst. Genug Angst, um sich mit dem Feind einzulassen und ihr eigenes Volk zu verraten, um das nackte Leben zu retten. Torian konnte es ihnen nicht einmal verdenken.
Aber er konnte ihnen auch nicht helfen.
»Gehen wir«, gebot er. Seine Stimme klang rauh und kratzig, aber er hoffte, daß das Mädchen das nicht bemerkte. Er war froh, daß Garth wenigstens in diesem Moment die Klugheit besaß, zu schweigen.
Yora wandte sich um und begann gebückt und schnell vor ihnen durch die dunkelgraue Dämmerung zu gehen.
Der Weg war weiter, als er geglaubt hatte. Der tanzende Lichtfleck, auf den Yora zulief, schien vor ihnen zurückzuweichen im gleichen Tempo, in dem sie sich ihm zu nähern versuchten, und ein paarmal erlosch er ganz und tauchte erst nach endlosen Minuten wieder auf. Der Kanal führte schnurstracks geradeaus, aber zweioder dreimal mußten sie kurze Treppen oder Schrägen überwinden, und einmal verwehrte ihnen eine brusthohe, mit schmierigem Schlick und Algen bewachsene Mauer das Weiterkommen, so daß Torian Yora und Garth beim Hinübersteigen helfen mußte.