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»Ihr verratet euer Volk, Gwayroth«, warf er ihm wider besseres Wissen vor. »Das wißt Ihr doch. Wenn wir wirklich die sind, für die Ihr uns haltet, dann laßt Ihr Euch mit Euren Feinden ein.«

»Verraten?« Gwayroth lachte häßlich, ballte die Linke zur Faust und schlug damit auf seinen verkrüppelten rechten Arm. »Ich verrate niemanden«, behauptete er, »weil ich niemandem etwas schuldig bin. Seht mich an!« Er deutete zornig auf die matte Metallkugel, die seine leere Augenhöhle füllte. »Das ist Worns Werk«, stieß er hervor. »Ich war ein Krieger wie ihr, und ich stand in seinen Diensten. Die besten Jahre meines Lebens habe ich diesem Hund geschenkt, und zum Dank hat er mich seinen Folterknechten übergeben. Niemand in dieser Stadt ist Worn oder seinen Häschern irgend etwas schuldig, Garianer, ausgenommen vielleicht einen Dolch zwischen die Rippen!« Seine Stimme begann zu zittern, und er ballte die Faust so heftig, daß seine Knöchel hörbar knirschten. »Ihr wart in der Inneren Festung, und ich hoffe, daß ihr deren Pläne in allen Einzelheiten im Kopf habt. Worn und dieses Pack, das diese Stadt beherrscht, wollen sich dort wie die Ratten verkriechen, und uns lassen sie hier draußen verrecken. Rador hat nicht einmal genug Vorräte, um eine Woche der Belagerung durchzustehen! Nein!« Er schüttelte heftig den Kopf. »Niemand hier ist Worn oder den Mächtigen irgend etwas schuldig.«

Torian blickte ihn verwirrt an. Für einen kurzen Moment war die Maske von Gwayroths Gesicht gefallen, und er hatte den Mann gesehen, wie er wirklich war: schwach und voller Zorn und zerfressen von Haß und Verbitterung.

»Wie viele seid ihr?« fragte er leise.

»Nicht ganz zwei Dutzend«, antwortete Gwayroth. »Mit mir und Yora. Werdet ihr uns helfen?«

Für einen Moment zögerte Torian noch. Es war nicht richtig. Er durfte Gwayroth und der Handvoll Verzweifelter, die sich ihm angeschlossen hatten, keine Hoffnung vorgaukeln, die es nicht gab. Wenn sie die Stadt einmal verlassen hatten, dann waren sie hilflos, Fremde in einem fremden Land voller Feinde und unbekannter Gefahren.

Aber in den Mauern Radors erwartete sie der sichere Tod. Die Chancen, die sie draußen hatten, mochten verschwindend gering sein, aber sie waren noch immer größer als die, welche sich ihnen in der Stadt boten, und so nickte er.

»Wir kommen mit euch«, erklärte er. »Wann gehen wir?«

»Heute nacht«, antwortete Gwayroth. »Wir brechen auf, sobald die Sonne untergegangen ist.« Er stand auf und nahm eine Fackel aus dem geschmiedeten Wandhalter. »Ich gehe und rufe die anderen zusammen«, ließ er sie wissen. »Yora wird bei euch bleiben und euch zum Treffpunkt führen, sobald es dunkel geworden ist.«

Sie hatten keine Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit festzustellen, Yora und Gwayroth verließen sie wieder, aber das Mädchen kehrte nach wenigen Augenblicken zurück, einen Beutel mit hartem Brot und wenigen Streifen gesalzenen Fleisches in der einen und einen Krug mit frischem Wasser in der anderen Hand. Es brachte auch Verbandszeug mit und versorgte Garth, aber es stellte sich nicht sehr geschickt dabei an und fügte Garth nur Schmerzen zu. Trotzdem ertrug der Dieb die Hilfe Yoras schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen, denn trotz allem gelang es ihr, sein Gesicht zu reinigen und die Wunden und Risse einigermaßen zu kaschieren, so daß sie – zumal bei Dunkelheit – einer nicht allzu gründlichen Kontrolle standhalten würden.

Sie sprachen nicht viel. Yora hockte sich in eine Ecke des Gewölbes und starrte zu Boden, als sie gegessen hatten und Garth versorgt war, und Torian fing nur dann und wann einen raschen, ängstlichen Blick ihrer dunklen Augen auf, wenn sie glaubte, er würde es nicht merken. Ein paarmal überlegte er, ob er sie einfach ansprechen und versuchen sollte, mehr über sie und Rador und Gwayroths Gruppe zu erfahren, entschied sich dann aber dagegen. Immerhin hielt dieses Mädchen ihn und Garth noch immer für Spione, Spione des Feindes zudem, der mit einem Heer vor den Toren der Stadt lag und nur darauf wartete, ihre Mauern zu erstürmen. Eigentlich war die Kraft, die es brauchte, um allein mit zwei vermeintlichen Feinden in diesem feuchten Gewölbe stundenlang auszuharren, schon bewundernswert.

Garth verfiel in einen unruhigen, von Fieber und Phantasien geplagten Schlaf, und auch Torian rollte sich fröstelnd auf den Lumpenbündeln zusammen und versuchte zu schlafen, schrak aber vor Kälte und bizarren Visionen, die vor seinen Augen aufstiegen, immer wieder hoch und gab es nach einer Weile auf.

Schließlich gab ihm Yora mit Zeichen zu verstehen, daß es an der Zeit war. Er weckte Garth, half ihm, seine Kleider noch einmal notdürftig zu säubern und nahm eine der Fackeln von der Wand. Aber Yora schüttelte sofort den Kopf. »Die braucht ihr nicht«, sagte sie. »Es ist nicht weit bis zum Ausgang, und wir dürfen kein Aufsehen erregen. Die Wachen würden aufmerksam, wenn sie das Licht sähen.«

Widerstrebend legte Torian die Fackel aus der Hand. Es gefiel ihm nicht, mit vollkommen leeren Händen dazustehen. Irgendwie hatte er noch immer das Gefühl daß Gwayroth sie hintergehen würde. Vielleicht liefen sie geradewegs in eine Falle. Aber wenn, dann war sie sicher so gut vorbereitet, daß ihm auch eine Waffe nichts mehr nutzen würde. Sie hatten beide keine Kraft mehr zu kämpfen. Und sie waren nicht mehr in der Position, irgendwelche Forderungen zu stellen.

Schweigend folgten sie dem Mädchen durch das Labyrinth der Kanalisation. Kälte und Gestank umgaben sie, und Torian verlor schon nach wenigen Augenblicken die Orientierung. Aber es war, wie das Mädchen gesagt hatte – der Weg endete schon nach kurzer Zeit vor einer steilen, in engen Spiralen nach oben gewundenen Steintreppe. Yora blieb stehen, legte mahnend den Zeigefinger über die Lippen und warf die Fackel zielsicher in eine Pfütze, wo sie zischend erlosch.

Die Dunkelheit schlug wie eine Woge über ihnen zusammen.

Vorsichtig, die Hände tastend wie ein Blinder nach beiden Seiten ausgestreckt, folgte Torian dem Mädchen. Garth war dicht hinter ihm. Er konnte nicht erkennen, was Yora vor ihm tat, aber er hörte sie eine Weile im Dunkeln hantieren, dann quietschten rostige Angeln, und ein sichelförmiger Streifen bleichen Mondlichtes fiel auf die Treppe.

»Still jetzt«, zischte Yora. Sie sprach in jenem hellen, gehetzten Flüsterton, den man fast ebensoweit hören konnte wie ein normal gesprochenes Wort, und Torian unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. Es war nicht immer ganz leicht, wenn Kinder Verschwörer spielen wollten.

Yora versuchte, die Klappe ganz aufzustemmen, aber ihre Kraft reichte nicht. Torian sah ihr einen Moment amüsiert dabei zu, dann schob er sich an ihr vorbei, wuchtete Schultern und Nacken gegen das rostige Eisen und schob den Deckel mit einem harten Ruck auf. Sie waren in der Mitte einer breiten, menschenleeren Straße. Es war dunkel. Zur Linken erhob sich die unregelmäßige Schattenlinie einer Häuserzeile, auf der anderen Seite wuchs die schwarze Wand der Stadtmauer in die Höhe und verschmolz irgendwo mit dem Nachthimmel. Nirgendwo war Licht oder auch nur die Spur von Leben zu entdecken.

Torian kroch auf Händen und Knien ein Stück von der Öffnung fort, drehte sich um und half Garth und dem Mädchen, nach oben zu gelangen. Dann befestigte er den eisernen Lukendeckel sorgsam wieder über dem Einstieg. Er paßte so perfekt, daß es nicht einmal gelungen wäre, einen Fingernagel zwischen ihn und den Stein zu zwängen. Seine Hochachtung vor den Erbauern Radors stieg. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in einer Stadt befand, in der es eine Kanalisation gab – die großen Metropolen von Scrooth waren stolz auf ihr Abwässersystem –, aber er hatte niemals eine solche Kunstfertigkeit und Perfektion angetroffen. Das Volk von Rador mußte eine erstaunliche Stufe der Zivilisation erklommen haben. Und trotzdem würde es untergehen, und von seiner stolzen Stadt würden nichts als Ruinen und Staub zurückbleiben...