Torian verscheuchte den Gedanken, richtete sich vorsichtig auf und sah sich sichernd um. Die Straße war leer, aber er spürte, daß sie nicht allein waren. Irgendwo, verborgen hinter dem Schleier aus Dunkelheit und Schwärze, der sich wie ein Vorbote des Todes über die Stadt gebreitet hatte, waren aufmerksame Augen, deren Blicke jede Bewegung verfolgten, und Ohren, die auf jeden Laut hörten.
»Wo sind wir hier?« fragte er leise.
Yora fuhr erschrocken zusammen und legte wieder die Hand über die Lippen, antwortete aber dann doch. »Im Osten der Stadt«, flüsterte sie. »Nicht weit von dem Tor entfernt, das Gwayroth kennt. Er wartet auf uns.« Sie wollte sich umdrehen, aber Torian hielt sie mit einem raschen Griff zurück.
»Was bedeutet das hier?« wollte er mit einer Geste auf die ausgestorbene Straße wissen. »Wieso ist es so still? Wieso ist niemand zu sehen?«
»Dieses Viertel ist nicht bewohnt«, antwortete Yora hastig. »Die Häuser stehen schon lange leer. Es kommt fast niemand hierher.«
»Ein unbewohntes Stadtviertel?« wiederholte Torian mißtrauisch. Er deutete auf die Mauer, deren Zinnen sich wie schwarze Wächter gegen den dunkelblauen Nachthimmel abhoben. »Und keine Männer auf den Wehrgängen, wo der Feind vor euren Toren steht? Wem willst du diesen Unsinn erzählen, Kindchen?«
»Es ist aber so!« wimmerte Yora. »Worn hat alle Krieger auf der Westmauer zusammengezogen, wo er den Angriff der Garianer erwartet. Und die Türmer melden jede Bewegung des Feindes früh genug.«
»Ich glaube dir kein Wort«, erklärte Torian hart. Aber dann ließ er Yoras Handgelenk doch los und seufzte nur. Wahrscheinlich wußte es das Mädchen nicht besser. Es hätte ihm die Wahrheit gesagt, wenn es sie gewußt hätte. Seine Angst vor ihm und Garth war zu groß.
»Geh«, knurrte er.
Yora wandte sich um und beeilte sich, die Straße hinunterzuhasten, und Torian und Garth folgten ihr in wenigen Schritten Abstand.
Der Weg war nicht weit. Yora ging schnell und sah sich dabei immer wieder angstvoll um, als spüre auch sie das Lauern unsichtbarer Augen hinter den Schatten, und schon nach wenigen hundert Schritten tauchte ihr Ziel vor ihnen auf: ein niedriges wie an die Mauer geklebtes, würfelförmiges Gebäude ohne Fenster, hinter dessen nur angelehnter Tür der blasse Schein einer Kerze flackerte.
»Dort?« fragte er.
Yora blieb stehen und nickte, ernst und knapp. »Gwayroth erwartet uns«, sagte sie. »Und die anderen auch. Kommt jetzt.«
Sie betraten das Haus. Es schien aus einem einzigen niedrigen Raum zu bestehen, und es war überfüllt von Menschen. Torian erkannte im flackernden Licht der Kerze mindestens vier Dutzend Männer und Frauen, nicht zwei, wie Gwayroth behauptet hatte, und die meisten von ihnen führten Kinder und große Bündel und Kisten mit hastig zusammengerafften Habseligkeiten mit sich. Er wartete, bis Garth und Yora hinter ihm eingetreten waren, schob die Tür ins Schloß und hielt nach Gwayroth Ausschau.
Der Einäugige stand im Hintergrund des Raumes und redete- begleitet von heftigem Gestikulieren – auf einen grauhaarigen Alten ein, mit dem er in Streit geraten zu sein schien, sah aber auf, als spüre er Torians Blick, und kam mit raschen Schritten näher.
»Wir sind bereit«, sagte er übergangslos.
Torian nickte und runzelte mit absichtlich übertriebener Mimik die Stirn. »Das sehe ich«, knurrte er. »Sind das die nicht ganz zwei Dutzend Leute, die Ihr mitbringen wolltet, Gwayroth? Radors Schulen scheinen eine eigenartige Mathematik zu lehren.«
Ein Schatten huschte über Gwayroths Gesicht. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er auffahren, dann preßte er aber nur die Lippen zusammen und ballte die Linke zur Faust. »Viele von denen, die mit uns kommen, haben ihre Schwestern und Brüder mitgebracht«, erklärte er.
»Und sämtliche Basen und Oheime auch«, knurrte Garth. »Und, wie es scheint, auch ihre Urureltern.«
Gwayroth fuhr mit einer wütenden Bewegung herum und funkelte den Dieb an. »Was erwartet Ihr, Garianer?« zischte er. »Diese Menschen wollen leben, das ist alles. Warum geht Ihr nicht herum und bestimmt die, welche hierbleiben sollen? Vielleicht nehmt Ihr Euch auch gleich ein Messer und schneidet Ihnen die Kehlen durch! Ihr...«
»Schon gut, Gwayroth«, unterbrach ihn Torian. »Garth hat es nicht so gemeint. Natürlich nehmen wir alle mit, die hier sind. Aber das Gepäck bleibt hier.«
»Es ist alles, was sie haben«, wandte Gwayroth ein.
Torian nickte. »Ich weiß. Aber wir können uns nicht mit Säcken und Kisten abschleppen, Gwayroth. Wir werden jedes bißchen Kraft brauchen, um die Alten und die Kinder zu tragen, wenn wir fliehen müssen. Seid vernünftig.«
Zu seiner Überraschung widersprach Gwayroth nicht mehr, sondern nickte bloß und wandte sich um. »Ihr habt gehört, was der Garianer gesagt hat«, sprach er mit erhobener Stimme. »Er hat recht. Laßt alles zurück, was ihr mitgebracht habt.«
Für eine Weile war der Raum vom Rascheln von Stoff und von polternden, klirrenden Lauten erfüllt; hier und da erhob sich unwilliges Murren, aber niemand machte einen ernsthaften Versuch, sich Gwayroths Befehl zu widersetzen. Diese Menschen, das begriff Torian plötzlich, waren am Ende ihrer Kraft. Sie hatten nicht mehr die Energie zu widersprechen, geschweige denn zu kämpfen. Sie wollten nur noch leben, das war alles. Und sie würden alles dafür tun. Torians Blick glitt mißtrauisch über die Männer und Frauen, die den Raum füllten. Aber das Gesicht, das er suchte, war nicht darunter.
»Wir sind bereit«, stellte Gwayroth nach einer Weile fest. Torian schrak aus seinen Betrachtungen hoch, nickte nervös und sah sich suchend um.
»Wie geht es weiter?«
»Der Gang beginnt gleich unter unseren Füßen«, erklärte Gwayroth mit einer Geste zum Boden. »Es ist ein Teil der Kanalisation. Wir werden kriechen müssen, aber es geht.«
»Die Kanalisation?« wunderte sich Garth. »Sie führt aus der Stadt hinaus? Direkt unter der Mauer hindurch?«
Gwayroth nickte. »Ja. Rador war früher größer, müßt Ihr wissen. Als die neuen Mauern gezogen wurden, haben die Herrschenden die alten Kanäle zumauern lassen. Diesen einen haben sie vergessen.«
Torian blickte ihn zweifelnd an. Gwayroths Erklärung klang nicht sehr überzeugend. Aber es gab nur eine Möglichkeit, diese Geschichte zu überprüfen. »Dann laßt uns gehen«, entschied er. »Je eher wir aus dieser Falle heraus sind, desto wohler ist mir. Geht voraus, Gwayroth.«
Gwayroth warf ihm einen letzten, undeutbaren Blick zu, drehte sich herum und scheuchte die Männer und Frauen zur Seite. In der Mitte des Bodens kam eine mattglänzende Metallplatte zum Vorschein, ähnlich der, durch die sie vor wenigen Augenblicken die Kanalisation verlassen hatten. Auf Gwayroths Geheiß hin knieten zwei Männer nieder, stemmten die Platte in die Höhe und traten beiseite.
Torian beugte sich neugierig über den Schacht. Ein Schwall verbrauchter, modriger Luft und Kälte schlug ihm entgegen, und anders als bei dem Abstieg, den er kannte, gab es hier keine Treppe, sondern nur eine Anzahl rostiger eiserner Ringe, die in den massiven Fels der Wand eingelassen waren und eine Art Leiter bildeten. Am Grunde des Schachts glitzerte etwas; wahrscheinlich faulendes Wasser, dem Geruch nach zu schließen.
»Geht voraus«, wies er Gwayroth an. »Ich folge Euch. Garth und das Mädchen bilden den Schluß.«
Ohne ein weiteres Wort schob sich Gwayroth an ihm vorbei, setzte behutsam den Fuß in einen der eisernen Ringe und begann, in die Tiefe zu steigen. Torian wartete einen Moment, wandte sich um und tastete mit dem Fuß nach dem obersten Eisenring. Er knirschte hörbar unter seinem Gewicht, aber er hielt, und nach einem letzten, kurzen Moment des Zögerns ließ Torian die gemauerte Kante des Schachtes los und kletterte hinter Gwayroth her.