Der Schacht war nicht sehr tief. Torian war vielleicht drei, vier Manneslängen weit hinabgeklettert, als er wieder festen Fels unter den Füßen spürte und Gwayroth ihn am Arm ergriff. Es war dunkel. Das Licht, welches von oben in den Schacht fiel, versickerte schon nach wenigen Fuß, und anders als in den Schächten, durch die sie Yora geführt hatte, gab es hier keinen leuchtenden Schimmel, der die Dunkelheit wenigstens notdürftig erhellt hätte.
»Wohin?« fragte er. Das Wort hallte vielfach gebrochen aus der Dunkelheit zurück; der Gang mußte sehr hoch sein.
»Nach links«, antwortete Gwayroth. Seine Stimme hatte jetzt viel von seiner Sicherheit verloren und zitterte. »Aber seid vorsichtig. Der Gang ist dort vorne sehr niedrig. Ein Teil der Decke ist eingestürzt.« Eine Weile hörte ihn Torian noch im Dunkeln hantieren, dann entfernten sich seine Schritte. Ein Funke glomm in der Dunkelheit auf, wuchs zu einer winzigen Flamme und dann zum Schein einer Pechfackel heran. Tanzende rote Schatten huschten über die Wände und die gewölbte Decke.
Torian trat vom Schacht zurück und sah sich aufmerksam um. Das Licht der Fackel reichte nicht sehr weit, aber das wenige, was er sah, schien Gwayroths Worte zu betätigen. Der Gang war mehr als mannshoch und von halbkreisförmigem Schnitt. Auf dem Boden hatten sich über Jahrhunderte hinweg Schmutz und Unrat abgelagert und eine holprige, steinharte Schicht gebildet, auf der das Gehen schwerfiel; es sah aus wie erstarrte Lava von dunkelgrauer Farbe. Feuchtigkeit glitzerte an den Wänden, und überall schimmerten Pfützen in allen Farben des Regenbogens. Der Gestank war fast unerträglich.
Gwayroth deutete stumm nach vorne. Der Gang war dort eingestürzt; die Decke niedergebrochen, als wäre sie von einem titanisehen Hammerschlag getroffen worden, aber an seiner rechten Seite war noch ein mannshoher Durchschlupf frei, hinter dem Schwärze und Schatten einen geheimnisvollen Tanz aufzuführen schienen. »Dort?« fragte er.
Gwayroth nickte. »Ja. Es wird noch enger weiter vorn, aber man kommt durch. Ich... war schon draußen.« Seine Zunge fuhr nervös und fahrig über seine Unterlippe, als hätte er plötzlich Mühe, zu sprechen. »Der Ausgang liegt jenseits der Mauer«, fuhr er fort. »Wir kommen durch, aber es wird schwer werden.«
Torian antwortete nicht darauf. Er hatte nicht erwartet, daß es ein Spaziergang werden würde.
Nach und nach kletterten auch die anderen zu ihnen herab, und der Stollen begann sich zu füllen. Garth stieg als letzter nach unten, wie Torian befohlen hatte. Mühsam schloß er die zentnerschwere Klappe über sich, hangelte sich an den schwankenden Eisenringen in die Tiefe und ließ sich keuchend gegen die Wand sinken. Sein Gesicht war bleich wie Kalk.
»Schaffst du es noch?« fragte Torian besorgt.
»Ich schaffe noch viel mehr, um aus diesem Rattenloch herauszukommen«, erwiderte Garth. »Laß uns weitergehen, Torian. Ich will hier raus.«
Torian wollte antworten; aber irgend etwas hielt ihn davon ab. Er wußte nicht, was es war; oder ob es überhaupt irgendeinen anderen Grund als seine eigenen überreizten Nerven hatte: Aber er fühlte sich mehr denn je beobachtet, belauert und auf schwer in Worte zu fassende Weise bedroht. Vielleicht lag es auch nur an der Enge des Gewölbes, das so mit Menschen vollgestopft war, daß man meinte, keine Luft mehr zu bekommen.
Er verscheuchte den Gedanken, ging wieder zu Gwayroth hinüber und deutete auffordernd auf den Durchbruch in der zusammengebackenen Geröllhalde, die ihnen das Weiterkommen verwehrte. »Geh«, sagte er einfach.
Gwayroth blickte ihn noch einen Herzschlag lang unsicher an, wandte sich dann mit einem Ruck um und drückte seinem Nebenmann die brennende Fackel in die Hand. Dann ließ er sich auf die Knie sinken und kroch in den Tunnel hinein.
Irgend etwas geschah...
Torian vermochte das Gefühl nicht in Worte zu kleiden; nicht einmal in Gedanken. Aber er spürte es, mit schmerzhafter Wucht. Das Fremde.
Das Böse, absolut Negative, den Haß, der sich plötzlich in dem niedrigen feuchten Gewölbe manifestierte und wie schwarze Schattenwesen aus einer anderen fremden Welt mit unsichtbaren Fingern nach seinen und den Gedanken der anderen griff und sich in ihre Seelen krallte.
Neben ihm begann eine Frau zu schreien, und das Licht begann zu tanzen, als der Mann, dem Gwayroth die Fackel in die Hand gedrückt hatte, diese hob und sie seinem Nebenmann wie eine Lanze ins Gesicht stieß. Torian sah ein Blitzen aus den Augenwinkeln, warf sich zur Seite und keuchte vor Schmerz als die Messerklinge, die nach seiner Kehle gezielt hatte, eine dünne brennende Schmerzlinie über seinen Oberarm zog. Er fiel, rollte instinktiv zur Seite und griff blindlings nach einem Fuß der nach seinem Gesicht trat, verdrehte ihn und brachte den Mann mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht.
In dem unterirdischen Gewölbe brach die Hölle los. Plötzlich, von einem Lidzucken auf das andere, verwandelten sich die vier Dutzend Flüchtlinge, die vor einer Sekunde noch nichts anderes als ein verschüchterter Haufen Verzweifelter gewesen waren, in einen tobenden Mob. Schreie und das Klirren von Stahl, dumpfes Poltern und das Klatschen von Schlägen ließen den Tunnel erbeben, Faustschläge und Tritte prasselten auf Torian herab, und mehr als ein Dolch oder Schwert wurde nach ihm geschlagen. Wie durch ein Wunder kam er auf die Füße, stieß einen Mann von sich und brach einem zweiten, der mit einem armlangen Schwert auf ihn eindrang, das Handgelenk. Etwas traf seinen Rücken und ließ ihn taumeln. Er fiel gegen die Wand, wirbelte instinktiv herum und fing im letzten Augenblick einen Schwerthieb ab, der gegen seinen Unterleib gezielt war. Der Angreifer torkelte, als ihn Torians Faust an der Schläfe traf, kippte zur Seite und ließ seine Waffe fallen. Torian fing das Schwert auf, ehe es den Boden berührte, schlug einen weiteren Angreifer mit der flachen Seite der Klinge nieder und hatte für einen Moment Luft.
Der Anblick, der sich ihm bot, hätte geradewegs aus einem üblen Fiebertraum stammen können. Die Menge war zu einem brüllenden, wahnwitzigen Tollhaus geworden, das nur noch ein Ziel zu kennen schien: Töten. Männer kämpften gegen Frauen, Alte gegen Kinder, Mütter gegen ihre Söhne und Väter gegen ihre Töchter, unterschiedslos und wie in einem irrsinnigen Blutrausch. Die Fackel war erloschen, aber die Kleider eines Toten hatten Feuer gefangen, und der flackernde Schein tauchte die grausige Szene in blutigrotes Licht und ließ das Geschehen gleichzeitig irreal wie unbeschreiblich furchtbar erscheinen.
Torian sah sich nach Garth um und entdeckte ihn dort, wo er ihn zurückgelassen hatte, am Fuße des Schachtes. Er kämpfte mit bloßen Händen gegen Yora, die sich in seine Kleider verkrallt hatte und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Sie schrie ununterbrochen, und Garths Hände schienen kaum auszureichen, sich die Tobende vom Halse zu halten. Torian stöhnte. Er hatte mehr Schlachten erlebt, als er zählen konnte, und mehr Kämpfe ausgefochten, als ein Jahr Tage hatte, aber er hatte niemals Menschen gesehen, die mit solcher Brutalität kämpften, rücksichtslos und nur von dem Gedanken besessen, zu morden. Und auch er spürte den Griff jener unsichtbaren, geistigen Macht, die aus normalen Menschen reißende Bestien gemacht hatte: das quälende Wühlen in seinem Schädel, ein Wille, der so stark wie sein eigener und viel zielstrebiger war und ihn zwingen wollte, das Schwert zu heben und zu töten, töten, töten... Töte! wisperte die Stimme in seinem Schädel. Töte sie! Töte sie! Töte sie! Töte! Töte! Töte!
Torian schrie auf, drehte das Schwert herum und drosch sich mit dem Knauf eine Gasse durch die Menge der Kämpf enden. Blutige Schleier tanzten vor seinen Augen, und für einen Moment glaubte er, ein schmales, von dunklen tiefen Schatten zerfurchtes Gesicht zu erkennen, das ihn höhnisch anstarrte.
Dann zerriß der Schleier mit einem plötzlichen, schmerzhaften Ruck, und er fand sich wenige Schritte neben Garth, zitternd, das Schwert so fest umklammert, daß das Blut aus seinen Händen tropfte. Mit einem gellenden Schrei sprang er vor, erreichte Garth und riß das Mädchen, das noch immer hysterisch kreischte und mit Fäusten und Fingernägeln auf sein Gesicht einhieb, zurück. Yora taumelte, fiel auf die Knie und kam mit einem beinah tierisch klingenden Laut wieder hoch. Ihre Fingernägel blitzten wie die Krallen eines Raubvogels, und in ihren Augen flammte der Wahnsinn. Torian stieß sie ein zweites Mal und kräftiger zu Boden, aber wieder sprang sie auf, und plötzlich hielt sie einen faustgroßen Stein in der Rechten.