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»Da hast du deinen Turm«, murmelte Garth schwach. »Wenn du wirklich dorthin willst...«

Torian schwieg einen Moment, wandte sich um und blickte den Dieb besorgt an. Garth’ Zustand hatte sich während der Nacht gebessen – trotz allem war der Dieb noch immer so stark wie ein Ochse, und sein Körper vermochte selbst da noch Reserven zu aktivieren, wo jeder andere schon längst tot zusammengebrochen wäre –, und sie hatten sich gesäubert und ihre Kleider in Ordnung gebracht, so gut es ging. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. Sie waren nur zwei weitere Gestalten in der immer größer werdenden Menge, die die Straßen Radors füllte. Er hatte Garth nicht erklärt, was er vorhatte. Er konnte es nicht. Es war nur ein Gefühl, etwas wie der Instinkt eines gejagten Tieres, der es todsicher den einzig möglichen Fluchtweg finden ließ. Er kannte die Lösung aller Rätsel – sie war da; dicht unter der Ebene des logischen Denkens, aber sie entzog sich seinem bewußten Zugriff, sobald er danach zu greifen versuchte. Die sonderbare Klarheit, mit der er die Dinge während ihrer verzweifelten Flucht aus dem Kanal gesehen hatte, war mit der Erschöpfung gewichen, und geblieben war nur die Erinnerung an früheres Wissen und eine sonderbare Gewißheit, unmittelbar vor der Lösung aller Rätsel zu stehen. Was er jetzt tat, tat er nicht mehr bewußt, sondern ließ sich einfach von seinen Instinkten und Gefühlen leiten wie ein Raubtier auf der Flucht.

Garth folgte ihm widerspruchslos, als er ohne ein weiteres Wort die Richtung wechselte und sich auf den schwarzen Schatten der Inneren Festung zubewegte. Sie kamen jetzt langsamer voran. Der Strom der Menschen nahm zu, und die meisten bewegten sich fort von der Inneren Festung auf den Stadtrand zu, als hofften sie, doch noch einen Fluchtweg zu finden.

Keiner von ihnen würde entkommen, dachte Torian bedrückt. Die Stadt würde geschleift werden und im Wüstensand versinken, und...

Er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung. Die Männer und Frauen, die ihnen begegneten, lebten nicht; nicht wirklich. Sie waren längst tot, seit einem Jahrtausend, und was sie sahen, war nichts als die grausame Wiederholung eines Schicksales, das sich längst vollzogen hatte. Verzweifelt versuchte er, sich diesen Gedanken einzuhämmern, aber es nutzte nicht viel. Er wußte, daß es so war, aber es gab plötzlich noch einen zweiten, anderen Torian in ihm, und diesem anderen war die Logik und der gesunde Menschenverstand gleich, und er schrie ihm zu, daß all diese Menschen rings um ihn herum sterben würden, grausam und sinnlos und unerbittlich.

Obwohl die Entfernung kaum mehr als eine Meile betrug, brauchten sie annähernd zwei Stunden, um die Innere Festung zu erreichen. Der Flüchtlingsstrom nahm nach und nach ab, je mehr sie sich dem Stadtzentrum näherten, aber dafür sahen sie mehr Soldaten; meist in kleinen Gruppen zu fünf oder sechs Mann, einmal auch eine komplette Hundertschaft, die in voller Bewaffnung und zu Pferde dahergaloppiert kam und die Straße rücksichtslos leerfegte. Schließlich wichen die Häuser zu beiden Seiten zurück, und die Straße öffnete sich zu einem weiten, sechseckigen Platz, in dessen Mittelpunkt sich die Innere Festung wie ein von Menschenhand geschaffener Berg erhob.

Sie blieben im Schatten des letzten Hauses stehen. Garth gab einen Laut der Enttäuschung von sich, schüttelte niedergeschlagen den Kopf und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Aus«, murmelte er. »Da kommen wir niemals durch.«

Torian antwortete nicht. Es gab auch nicht viel, was er hätte sagen können. Die Innere Festung hatte sich vollkommen verändert, seit sie das Bauwerk verlassen hatten. Die gewaltigen, an den Außenseiten mit Bronzeplatten beschlagenen Tore standen weit offen, und ein Strom von Männern und Frauen ergoß sich in die Fluchtburg; offenbar die privilegierteren Bürger Radors, denen eine hohe Geburt oder ein Rang einen Platz in der scheinbaren Sicherheit ihrer Mauern gesichert hatte. Auf den Wehrgängen patrouillierten Wachen, und auch auf der Plattform des Turmes standen Soldaten. »Laß uns zurückgehen, Torian«, murmelte Garth. »Vielleicht kommen wir irgendwie...«

»Still!« Torian winkte hastig ab, und Garth verstummte gehorsam.

»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit«, fuhr Torian leise fort. »Aber sie ist gefährlich.«

Garth kicherte hysterisch. »Ach? Das wäre doch endlich eine Abwechslung. Was hast du vor?«

Torian deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Gasse, die wenige Schritte hinter ihnen in die Hauptstraße mündete. Garth seufzte protestierend, stemmte sich aber trotzdem hoch und folgte Torian mit kleinen, mühsamen Schritten. Der dunkle Fleck auf seiner Schulter war größer geworden.

»Also?« wollte Garth wissen, nachdem sie in den Schatten der Gasse zurückgewichen waren. »Was hast du vor? Stürmen wir die Festung, oder graben wir uns nur unter dem Platz durch?«

»Erinnerst du dich daran, wie ich euren Magier überlistet habe?« fragte Torian ernst.

Garth zog eine Grimasse und betastete seine blutende Schulter. »Schwach«, murmelte er.

Torian nickte. »Es hat einmal funktioniert«, sagte er und deutete auf den Strom von Männern und Frauen, der sich durch die Tore der Festung wälzte. »Warum sollte es nicht noch einmal gelingen?«

Es dauerte einen Moment, bis Garth seinen Gedankengang nachvollzogen hatte. »Du meinst...«

»Ich meine, daß wir uns zwei von ihnen schnappen und ihnen die Kleider stehlen, ja.« Torian lächelte. »Der Gedanke müßte dich aufmuntern. Es gibt etwas zu tun für dich.«

»Seit wann stiehlt Garth, Die Hand, Kleider?« antwortete Garth säuerlich. »Du beleidigst mich. Außerdem«, fügte er bestimmt hinzu, »wird es nicht klappen.« Bei den beiden letzten Worten schwankte seine Stimme; für einen kurzen Augenblick zerbrach die Maske vor seinem Gesicht, und Torian sah ihn wieder so, wie er war: ein erschöpfter, verwundeter Mann, der sich nur noch durch pure Willenskraft auf den Beinen hielt und die Grenzen seiner Kraft schon längst überschritten hatte. Er versuchte, den Gedanken zu verscheuchen.

»Und wieso?« fragte er, bewußt beiläufig. »In dem Durcheinander, das hier herrscht, sehen sich die Wachen bestimmt nicht jedes Gesicht an. Außerdem können sie unmöglich jeden kennen.«

»Und was tun wir, wenn wir drinnen sind?« fragte Garth. »Sie entdecken uns schneller, als du deinen Namen schreiben kannst – wenn du es kannst.«

»Das spielt keine Rolle«, beharrte Torian auf seinem Plan. »Wir müssen hineingelangen.«

Garth seufzte.

Es war beinahe zu leicht. Torian mußte nur wenige Minuten warten, bis sich eine Gelegenheit bot, zwei der ahnungslosen Flüchtlinge, die auf die Innere Festung zustrebten, in die Gasse zu zerren und sich ihrer Kleider zu bemächtigen. Die beiden halbnackten Gestalten – Torian hatte darauf verzichtet, Garth’ Vorschlag zu folgen und ihnen ihre eigenen Kleider überzustreifen, um Worn und die Soldaten, die zweifellos noch immer nach ihnen suchten, zusätzlich in die Irre zu führen – blieben sorgsam geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt in der Gasse zurück, während Garth und Torian, in die grauen, aus überraschend grobem Stoff gewobenen Gewänder gehüllt, wieder auf die Straße hinaustraten und sich in den Strom derer einreihten, die auf die weit geöffneten Tore der Fluchtburg zueilten.

Es waren nicht viel mehr als hundert Schritte; aber Torian hatte das Gefühl, hundert Meilen zurücklegen zu müssen. Er ging schnell, vornübergebeugt und mit gesenktem Kopf, was ihn älter erscheinen ließ, als er war, und wie Garth hatte er den sonderbar geformten Hut, den die Adeligen dieser Stadt zu tragen pflegten, weit in die Stirn gezogen, um sein Gesicht zu verbergen. Trotzdem glaubte er, die Blicke der Männer und Frauen rings um sich wie schmerzhafte Messerstiche zu spüren. Mit einem Male war er gar nicht mehr so sicher, daß Garth unrecht und er recht hatte – was, wenn die Posten, die die Bronzetore gleich dutzendfach flankierten, bereits über eine Beschreibung von ihnen verfügten oder gar eine Art Passierschein verlangten?