Torian versetzte Worn einen Stoß, der ihn haltlos nach vorne taumeln ließ, ließ sich zur Seite kippen und schleuderte noch im Fallen seinen Dolch. Die Waffe verwandelte sich in einen silbernen Blitz, zischte eine Handbreit an Worns Schädel vorbei – und bohrte sich bis ans Heft in die Brust des Alten.
Für einen endlosen, schrecklichen Moment schien die Zeit stillzustehen.
Worn, die Soldaten, die in Panik ausbrechende Menge, ja selbst die Pfeile, die sich wie eine dunkle Wolke von den Wehrgängen herab auf ihn und Garth ergossen, erstarrten zur Reglosigkeit. Selbst die Luft schien zu zähflüssigem Sirup zu gerinnen. Einzig Torian und Garth waren noch in der Lage, sich zu bewegen.
Sie – und eine der graugekleideten Gestalten auf der anderen Seite des Hofes.
Der Alte wankte. Der Ausdruck grausamen Spotts in seinen Augen wich dem erschrockener Überraschung. Seine Lippen begannen zu zittern. Er taumelte. Seine Hände hoben sich, tasteten nach dem Griff des Dolches, der dicht über seinem Herzen aus seiner Brust ragte, und sanken kraftlos herab.
Mit der Festung ging eine unheimliche Veränderung vor sich. Die Mauern begannen zu flimmern, als wären sie bloße Illusion, nicht mehr als eine Fata Morgana, die eine launische Natur so schnell zerstörte, wie sie sie geschaffen hatte, verloren an Substanz und wurden durchsichtig. Männer, Mauern und Krieger verblaßten, verwehten wie dünner Rauch in der Hitze des Tages, und der Himmel, der bisher von einem strahlenden Blau gewesen war, loderte plötzlich rot und drohend über ihnen.
Dann war es vorbei.
Von einer Sekunde auf die andere war Rador verschwunden wie ein böser Spuk, und rings um sie herum erstreckten sich die ockerbraunen Sanddünen der großen Wüste, nur hier und da durchbrochen von halbzugewehten Mauerresten und Ruinen. Alles, was blieb, waren Garth und Torian.
Und eine schmale, verkrümmte Gestalt, die dreißig Schritte vor ihm im Sand lag und auf die größer werdende Blutlache starrte, die sich unter ihr bildete.
»Ihr Götter!« keuchte Garth. »Was bedeutet das? Was geht hier vor?«
»Mit den Göttern hat das nichts zu tun, Garth«, entgegnete Torian leise. Seine Stimme klang belegt und kam ihm selbst wie die eines Fremden vor. »Eher mit dem Gegenteil.«
Garth starrte ihn an, aber Torian sprach nicht weiter, sondern ging langsam durch den heißen Sand auf den sterbenden Alten zu. Sein Blick streifte die von Wind und Jahrhunderten zernagte Ruine des Turmes. Er schauderte, als ihm zu Bewußtsein kam, daß er praktisch auf einem Massengrab stand.
Um ein Haar wäre es auch sein Grab geworden...
Der Alte bewegte sich mühsam, als Torian vor ihm stehenblieb und sein Schwert zog; sein eigenes Schwert. Die Waffe war wieder da, als wäre sie ihm niemals abgenommen worden, und ein rascher Blick auf seine Hände zeigte ihm, daß auch die frischen Schnittwunden verschwunden waren.
»Mach... ein Ende, Torian«, keuchte der Alte. »Töte... mich. Du... hast mich besiegt. Quäle mich nicht.«
Torian starrte den greisen Magier reglos an. Er hatte nie einen älteren Menschen gesehen – und nie einen, der so viel Bosheit ausstrahlte. Und trotzdem empfand er nichts als Mitleid mit ihm. »Töte... mich«, flehte der Alte. »Ich... ertrage keine Schmerzen.«
Torians Lippen begannen zu zucken. Es gab tausend Worte, die er sagen wollte, tausend Verwünschungen und Flüche. Aber er sprach nichts davon aus, sondern hob langsam sein Schwert. »Eine Frage noch«, sagte er.
Der Alte blickte ihn an. »Ja?«
»Warum?« fragte Torian.
»Warum?« Der Alte stöhnte, drehte sich mit erstaunlicher Kraft auf die Seite und begann, hysterisch zu kichern. Plötzlich hustete er, spuckte Blut und krümmte sich im Sand. »Du hast es doch... gesehen, Torian Carr Conn«, stöhnte er. »Du hast den Untergang der Stadt Rador gesehen.«
»Aber was...«
»Ich war... dabei«, keuchte der Alte. »Ich war... der einzige, der mit dem Leben davonkam.«
»Du warst dabei?« wiederholte Torian ungläubig. »Aber es ist über tausend Jahre her!«
»Ich... bin ein Magier, vergiß das nicht, Torian. Ich... schloß einen Pakt mit Mächten, für die ein Jahrtausend nicht mehr ist als ein Tag. Ich schwor, jeden Garianer zu töten, der seinen Fuß in diesen Teil der Welt setzt. Dafür gewährten sie mir... Leben.«
»Aber wir sind keine Garianer.«
»Doch«, behauptete der Alte. Plötzlich war seine Stimme ganz klar. »Ihr seid es, Torian. Du – dieser jämmerliche Dieb da, jeder von euch. Es waren die Garianer, die die Herren dieses Landes auslöschten, und aus ihren Nachkommen... entstanden die Völker, aus denen ihr stammt.«
»Aber es ist tausend Jahre her!«
»Was sind tausend Jahre?« keuchte der Magier. »Ihr zahlt für... die Taten eurer Väter. Ihr werdet alle zahlen. Ich bin nicht der einzige. Es gibt... viele wie mich. Ihr werdet... bezahlen.«
Torian hob sein Schwert, aber diesmal war es der Alte, der ihn noch einmal zurückhielt. »Ich habe dir deine Frage beantwortet«, murmelte er. »Jetzt gewähre du mir die gleiche Gnade.«
Torian nickte stumm.
»Wie...«, stammelte der Alte. »Woher hast... du es... gewußt. Vor dir sind... Hunderte gekommen, und keiner hat... meine Tarnung durchschaut. Wieso du?«
»Hunderte?« Torian lächelte bitter. »Und du hast sie alle getötet, nicht wahr?«
»Niemand hat... je meine Tarnung durchschaut«, stöhnte der Alte. Der dunkle Fleck unter seinem Körper wurde größer.
»Wieso... du... Wieso?«
»Es war leicht«, erklärte Torian. »Du selbst hast dich verraten, Alter. Du hättest nicht versuchen sollen, uns dazu zu bringen, uns gegenseitig zu töten. Ich ahnte es bereits, als Garth mich davon abhielt, mich von der Mauer zu stürzen. Und ich wußte es, als du Gwayroths Leute gezwungen hast, sich gegenseitig umzubringen.«
Seine Stimme wurde hart. »Es waren Frauen und Kinder bei ihnen.«
»Das war es also«, murmelte der Alte. »Das... war es... Und ich dachte schon, du... wärest wirklich ein Liebling der Götter, wie so viele behaupten.« Er lachte schrill. »Aber das bist du nicht, Torian, das bist du ganz und gar nicht. Du... du bist nichts als ein dreckiger kleiner Mörder.«
Torians Hand zuckte. Aber er schlug nicht zu, sondern schob das Schwert nach kurzem Zögern in den Gürtel zurück.
Es war nicht mehr nötig, die Waffe zu benutzen.
Garth starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, als er sich herumdrehte. Aber es dauerte einen Moment, bis Torian begriff, daß das Entsetzen, das er im Blick des Diebes las, nicht von den Worten des Alten stammte, oder dem, was sie erlebt – zu erleben geglaubt – hatten.
»Also doch«, sagte er. »Ich wollte es nicht glauben. Ich... habe dich für einen Angeber gehalten. Torian. Einfach nur Torian, wie?«
Er lachte, aber es klang böse. Und gleichzeitig voller Furcht. Ein Ton, den Torian kannte. Nur zu gut.
»Torian«, begann Garth noch einmal. »Torian Carr Conn, der berüchtigste Killer im Umkreis von zehntausend Meilen. Und ausgerechnet ich Narr tue mich mit ihm zusammen.«
»Warum auch nicht?« spottete Torian, sehr leise und mit einem Lachen, das Garth vielleicht mehr erschreckte als alles andere zuvor. »Warum eigentlich nicht, Garth? Ein Mörder und ein Dieb... Ich glaube, wir beide gäben ein gutes Gespann ab.«
Damit wandte er sich mit einem Ruck um und ging an Garth vorbei zu den wartenden Pferden hinüber.
Die Tochter des Magiers
(Mit Dieter Winkler)
Torian hatte Durst. Er würde sterben, wenn er nicht bald Wasser bekam, ebenso wie sein Begleiter, der wie er mehr auf dem Rücken seines Pferdes hing, als er saß, weit nach vorne gesunken, mit baumelnden Armen. Zwei Männer am Ende ihrer Kräfte, auf Tieren, die kaum weniger erschöpft waren als ihre Reiter. Es war heiß, noch immer. Vor drei Stunden war die Sonne als lodernder Feuerball hinter dem Horizont versunken, aber Torian kam es vor, als wäre es mit der Dämmerung eher heißer geworden. Der Nachthimmel spannte sich wie ein samtblaues Tuch über den östlichen Ausläufern der Staubwüste im Herzen Caracons, ein Baldachin aus Schwärze, von dem sich die Sterne als winzige, glänzende Punkte abhoben; aber die Luft flimmerte immer noch vor Hitze, und der Wind, den die Dämmerung mitgebracht hatte, brachte kaum Linderung, sondern war wie die Berührung einer unangenehmen warmen Hand, und er roch nach Staub und Wärme und ausgeglühtem Stein. Ja, dachte Torian mit einer Kälte und Teilnahmslosigkeit, die ihn selbst fast erschreckte, sie würden beide sterben, wenn sie in dieser Nacht kein Wasser fanden. Vielleicht schon eher, denn ihr Leben war unlösbar mit dem der beiden Pferde verknüpft. Brach eines der Tiere unter der Last seines Reiters zusammen, war dies das Todesurteil für beide. Die Staubwüste zu Pferde zu durchqueren, war lebensgefährlich. Sie zu Fuß durchqueren zu wollen, war unmöglich.