Garth beobachtete ihn stirnrunzelnd und folgte ihm etwas langsamer. Er legte die Hand auf den Sattelknauf, ließ sie aber dann wieder sinken und blickte Torian mit einem Ausdruck an, von dem er nicht wußte, ob es Mißtrauen oder wirkliche Sorge war.
»Was ist los mit dir?«
»Nichts«, knurrte Torian. Er versuchte vergeblich, einfach nur ungeduldig zu klingen. »Ich habe Hunger und möchte möglichst schnell das nächste Gasthaus erreichen, das ist alles«, antwortete er ironisch.
Garth reagierte nur mit einem Hochziehen der Augenbrauen. »Du weißt genau, was ich meine«, sagte er mit einer Ruhe, die Torian fast noch wütender machte. »Wenn wir den Pferden noch etwas Ruhe gönnen, kommen wir anschließend viel schneller voran. Und uns würde eine halbe Stunde Ruhe auch guttun. Warum diese plötzliche Eile?«
Torian wußte, daß der Dieb recht hatte, und – was viel schlimmer war- er erkannte auch, daß Garth sich nicht mit einer fadenscheinigen Ausrede zufriedengeben würde. Der Hüne hatte gemerkt daß etwas nicht stimmte, und seinem ernsten Gesicht zufolge war er entschlossen herauszufinden, was es war.
»Ich weiß nicht«, knurrte Torian. Er sah sich um. Alles war wie zuvor, und doch glaubte er die Gefahr oder was auch immer jetzt beinahe körperlich zu spüren. Wenn es wirklich eine Veränderung gab, so war sie nicht sichtbar. Die Schatten schienen dunkler und irgendwie stofflicher geworden zu sein, alle Konturen sahen schärfer aus, wie mit einem schwarzen harten Stift nachgezeichnet. Sein eigener Schatten und der seines Tieres waren... einfach falsch. Es waren keine Schatten, sondern schwarze Löcher in der Wirklichkeit. Etwas Namenloses, völlig Fremdartiges, das gerade unterhalb der Grenze des Sichtbaren lag, nahm inmitten der dräuenden Schatten Gestalt an.
Torian konnte es beinahe riechen.
Und es kam näher.
Aus den Augenwinkeln nahm Torian rasche, huschende Bewegungen wahr, die sich in nichts auflösten, sobald er genauer hinsah. Ein Raunen und Wispern wie von unhörbaren Stimmen lag wie eine letzte Warnung in der Luft. Er fühlte sich von bösartigen Augen angestarrt, Augen, die ihn aus den Ritzen der Wirklichkeit heraus anstarrten, hörte das Geräusch horniger schrecklicher Krallen, die... Unsinn! dachte er wütend. Er war nur nervös, sonst nichts! »Also?« hakte Garth nach, als er nicht weitersprach.
»Bitte, laß uns reiten«, sagte Torian. Er glaubte, einen süßlichen Geruch wahrzunehmen, wie den Gestank von Fäulnis und Moder und etwas anderem, das er nicht einordnen konnte. Etwas kam. Näherte sich. Schnell.
»Etwas... ist hier nicht, wie es sein sollte«, sagte er verstört. »Ich fühle etwas, aber...« Er brach ab und suchte nach Worten. »Es ist so ähnlich wie in Rador«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Am liebsten hätte er Garth gepackt und in den Sattel hochgerissen, gleichzeitig fühlte er sich wie gelähmt.
Aber zu seiner Überraschung reagierte Garth weder zornig noch mit Spott. Im Gegenteil – der Dieb schien nun auch etwas zu spüren. Ein neuer Ausdruck trat in sein Gesicht, eine Mischung aus Unverständnis und kaum verhohlenem Mißtrauen. Er sog hörbar die Luft ein und warf einen Blick in die Runde, dann nickte er und schwang sich in den Sattel.
Genauer gesagt – er versuchte es. Mitten in der Bewegung schien er für die Dauer eines Herzschlages zu erstarren. Er sprang auf den Boden zurück, fuhr herum und hob erschrocken die Fäuste. Gleichzeitig stieß sein Pferd ein schrilles, angsterfülltes Wiehern aus. »Was ist?« fragte Torian alarmiert. Ganz automatisch senkte sich seine Hand auf das Schwert, das an seinem Gürtel hing.
»Ich...« Garth stockte, sah zu Torian auf und versuchte zu lächeln. Es mißlang kläglich. »Verrückt«, sagte er. »Für einen Moment war ich fast sicher, eine Berührung zu spüren. Etwas hat mein Bein gestreift, aber...«
Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern sprang mit einer Behendigkeit in den Sattel, die man einem Mann seiner Statur kaum zugetraut hätte, und trieb sein Pferd an. Das Tier protestierte mit einem schrillen Wiehern gegen die grobe Behandlung, machte einen gewaltigen Satz nach vorne und preschte so schnell los, daß Torian kaum folgen konnte.
Hinter ihnen erklang ein peitschender Knall – ein Geräusch, dachte Torian entsetzt, als wäre etwas ungeheuer Mächtiges auf einen trockenen Ast getreten und hätte ihn zerbrochen. Torian widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und nach dem zu schauen, was dieses entsetzliche Geräusch verursacht hatte – aber der Laut trieb sie zu noch größerer Eile an. Schweigend jagten sie nebeneinander her. Die Hufe ihrer Pferde ließen Wasser und kleine Erdbrocken aufspritzen. Die Angst hatte von den Tieren jetzt ebenfalls Besitz ergriffen. Ohne daß Torian oder Garth sie auch nur anzutreiben brauchten, galoppierten sie, als säße ihnen der Teufel im Nacken. Vielleicht, dachte Torian beklommen, vielleicht war dieser Gedanke nicht einmal allzu falsch.
Erst als sie mehr als eine Meile in kräftezehrendem Galopp zurückgelegt hatten, zügelte er sein Pferd wieder. Was auch immer er wahrgenommen hatte — oder wahrzunehmen geglaubt hatte —, war hinter ihnen zurückgeblieben. Wenigstens versuchte er sich das einzureden.
»Was... was war das?« keuchte Garth atemlos. Angst schwang in seiner Stimme mit. Er hatte die Anwesenheit des fremdartigen'... Etwas erst viel später als Torian gespürt, aber dafür um so intensiver.
»Was ist mit deinem Bein?« fragte Torian, statt zu antworten. Mit sanftem Schenkeldruck lenkte er sein Pferd näher an das des Diebes heran, allerdings nicht, ohne sich mit einem raschen Blick davon zu überzeugen, daß sie wirklich allein waren.
Garth zog den Fuß aus dem Steigbügel und streckte das rechte Bein aus. Ein dunkler Fleck von Daumengröße hatte sich auf seinem Stiefel gebildet. Das Leder sah wie verbrannt aus, aber Torian sah noch etwas anderes, das er im dämmerigen Zwielicht nicht zu deuten vermochte. Es erinnerte an hellen, zähflüssigen Schleim und unterschied sich deutlich von dem getrockneten, viel dunkleren Schlamm, der an Garth’ Stiefel klebte.
Auch Garth sah diesen sonderbaren Fleck und runzelte verwirrtaber auch ein bißchen erschrocken – die Stirn. Er stieg aus dem Sattel, rupfte ein Büschel Gras aus und scheuerte damit über den Stiefel. Dann schleuderte er das Gras angewidert von sich.
Als er sich wieder zu Torian umwandte, war die Verwirrung in seinem Blick ein wenig mehr zu Schrecken geworden. Seine Stimme zitterte, obwohl er sich alle Mühe gab, sich zu beherrschen. »Was war das?« krächzte er. »Bei allen Göttern der Finsternis, Torian wo sind wir hier hineingeraten?«
Wieder warf Torian erst einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren, bevor er antwortete. »Ich weiß es nicht«, sagte er gepreßt. Er sprach langsam und bemühte sich, soviel Ruhe wie möglich in seine Stimme zu legen, auch wenn er wußte, daß es ihm so wenig gelang wie Garth zuvor. Er konnte weder sich selbst noch Garth durch Worte beruhigen – ganz einfach, weil er nicht wußte, was ihm und dem Dieb solche Angst einflößte. »Vielleicht... das Wasser«, murmelte er. »Vielleicht war etwas im Wasser.«
Garth nickte grimmig. »Pferdepisse, ja.«
Torian lächelte, aber nur ganz kurz, dann wurde er wieder ernst. »Das werden wir wohl nie herausfinden«, sagte er. »Und ich will es auch gar nicht wissen«, fuhr er fort. »Die Hauptsache ist, daß wir es abgeschüttelt haben.«
»Haben wir das?« murmelte Garth. »Das war Zauberwerk. Was hast du gesehen? Sag mir, was hast du gesehen?«