Und er hatte auch sonst kaum mehr Ähnlichkeit mit dem kalten, befehlsgewohnten Mann, der noch vor Augenblicken auf der anderen Seite des Tisches gesessen hatte, dachte Torian verwirrt. Sein Blick strahlte nicht mehr diesen suggestiven Zwang aus. Es war nur noch der Blick eines Menschen, der der Verzweiflung nahe war. Auf sein Gesicht trat ein gequälter Ausdruck, als wäre eine Wunde in seinem Inneren neu aufgerissen worden. Garth’ Worte hatten ihn getroffen.
»Ich bitte euch, weil ihr mir nur etwas nutzt, wenn ihr mir freiwillig helft«, erklärte er. »Kalaar und diese Menschen da draußen würden ihr Leben für mich geben, ohne eine Sekunde zu zögern, wenn ich es ihnen befähle. Sie gehorchen mir blind, aber auch meiner Macht sind Grenzen gesetzt. Ich kann sie nicht durch einen Befehl zu erfahrenen Kriegern machen. Die meisten wissen kaum, wie man ein Schwert hält. Ihr hättet sie wahrscheinlich mühelos überwältigen können, wenn ihr es gewollt hättet.«
»Als einer der Kerle mir fast die Zehen abgeschossen hat, kam mir das überaus gekonnt vor«, sagte Garth grimmig.
»Du weißt nicht, wohin er gezielt hat«, antwortete Salamir lächelnd und wurde sofort wieder ernst. »Wie gesagt, ich bitte euch um eure Hilfe. Unter Zwang würdet ihr einen Großteil eurer Fähigkeiten einbüßen und wärt nicht mehr wert als diese Männer da draußen. Wenn ihr ablehnt, seid ihr trotzdem als Gäste in diesem Haus willkommen, und ihr könnt weiterreiten, wann immer ihr wollt. Niemand wird euch aufhalten. Je eher ihr uns verlaßt, desto sicherer ist es – für uns alle. Aber die Entscheidung trefft ihr selbst.«
»Dann schlage ich vor, daß wir direkt aufbrechen«, knurrte Garth.
Torian beachtete ihn nicht.
»Unsere Hilfe...«, murmelte er. »Wobei?«
Salamirs Blick wurde noch trauriger. Er seufzte. Ein Ausdruck von Schmerz trat auf seine Züge, den Torian bei einem Mann wie ihm gar nicht für möglich gehalten hatte.
»Es geht um... um meine Tochter«, antwortete Salamir nach kurzer Pause. Für einige Sekunden wirkte er geistig abwesend, sein Blick schien in unendliche Ferne gerichtet zu sein.
Irgend etwas änderte sich. Torian wußte nicht, was, aber es war beinahe wie gestern abend, als er die Anwesenheit jenes fremden Etwas gespürt hatte, lange ehe er sie sah.
Und er spürte es nicht allein. Torian fing einen alarmierten Blick von Garth auf. Er spürte, wie seine Hand beinahe gegen seinen Willen zum Schwertknauf kroch. Etwas ging um sie herum vor, das er nicht begriff und das ihm angst machte. Salamir gab sich bewußt freundlich und harmlos, obwohl er es mit Sicherheit nicht war. Torian war sich keineswegs sicher, ob sie den Hof wirklich so einfach würden verlassen können, wie der Magier behauptete, aber er behielt seine Zweifel für sich und beschloß, noch vorsichtiger als bisher zu sein. Vielleicht war es nur Salamirs Magie, deren Wirken er spürte.
Aber was war es dann gewesen, was er gestern abend erlebt hatte? Die Tür wurde geöffnet, und ein Mädchen von kaum zwanzig Jahren trat mit hoch erhobenem Kopf herein, noch ehe Torian den Gedanken zu Ende verfolgen konnte. Sie trug ein bodenlanges weißes Kleid, das ihre weiblichen Rundungen betonte.
Torian wußte, daß es Salamirs Tochter war, ohne daß es irgendeiner Erklärung bedurft hätte. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen; keine äußerliche Ähnlichkeit – aber sie waren Menschen der gleichen Art. Ihr Auftreten war selbstbewußt und herrisch, aber ihre Bewegungen hatten auch eine katzenhafte Grazie. Schwarzes, lockiges Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr Gesicht wurde von den hohen Wangenknochen und den ausdrucksstarken Augen beherrscht, die ebenso dunkel wie die ihres Vaters waren, und genau wie bei Salamir vorhin hatte Torian das Gefühl, daß eine unsichtbare Hand nach seinem Denken griff, als sich ihre Blicke kreuzten. »Shyleen, meine Tochter«, sagte Salamir überflüssigerweise. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, und seine Augen verengten sich für die Dauer eines Herzschlages zu schmalen Schlitzen. »Eine Tempelpriesterin Ch’tuons«, fügte er mit sonderbarer Betonung hinzu. Der Name sagte Torian nichts, aber er sah, wie sich Garth verkrampfte.
»Ch’tuon«, echote der Dieb. Seine Stimme klang belegt. Er erschauerte sichtlich. Ein Ausdruck jähen Schreckens breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Eine Tempelpriesterin?« stammelte er. »Aber... aber wenn sie die Weihe empfangen hat, wie kann sie dann hier sein? Nur der Tod beendet die Berufung einer Priesterin!«
Shyleen musterte ihn hochmütig und mit mäßigem Interesse. Ihr Blick war, als betrachtete sie ein häßliches, aber interessantes Insekt. »Ich bin geflohen«, erklärte sie. Sie schaffte es, ihre Worte beiläufig klingen zu lassen. »Auch aus dem Tempel des Toten Gottes gibt es Wege hinaus, wenn man die Macht einer Opferpriesterin besitzt.«
»Geflohen«, ächzte Garth. »Allmählich begreife ich, was hier gespielt wird.« Er sprang auf und riß auch Torian von seinem Stuhl hoch. »Komm, wir müssen weg, so schnell wie möglich. Dieser Hof ist eine Todesfalle.«
»Langsam.« Torian streifte die Hand des Diebes ab. Gleichzeitig warf er Garth einen fast beschwörenden Blick zu, von dem er wenigstens hoffte, daß Salamir ihn nicht bemerkte. Garth allerdings offensichtlich auch nicht.
»Ich möchte jetzt endlich erfahren, was hier eigentlich gespielt wird«, sagte er zornig. »Was hat es mit diesem Ch’tuon auf sich?«
»Ch’tuon ist die oberste Gottheit der schwarzen Magier«, stieß Garth hervor. »Ein finsterer, unendlich mächtiger Dämon aus lange vergangenen Zeiten, dem noch heute Opfer dargebracht werden.«
»Menschenopfer«, ergänzte Shyleen gelassen.
Garth warf ihr einen fast entsetzten Blick zu, ehe er fortfuhr: »Die Flucht einer Tempelpriesterin ist eine Beleidigung des ganzen Ordens, die nur mit Blut gesühnt werden kann. Jeder Priester und Magier wird dieses verfluchte Weib jagen. Wahrscheinlich ist bereits eine halbe Armee hierher unterwegs.«
»Stimmt das?« fragte Torian leise, aber mit schneidender Schärfe in der Stimme. Plötzlich verstand er Garth’ Entsetzen nur zu gut. Shyleen erwiderte seinen Blick.
Aber sie tat noch mehr.
Torian bemerkte es beinahe zu spät. Etwas Unsichtbares griff nach seinen Gedanken; graue Spinnweben, die seinen Schädel einwoben und seinen Willen zu verkleben trachteten. Er stöhnte, versuchte die Augen zu schließen und konnte es nicht.
Mit aller Macht bäumte er sich gegen den suggestiven Angriff Shyleens auf. Ein dünner, aber sehr quälender Schmerz war die Antwort – aber auch in Shyleens Augen erschien ein Ausdruck von Überraschung. Sie schien nicht mit Widerstand gerechnet zu haben. Sie fauchte wie eine zornige Katze und verdoppelte ihre Anstrengungen. Torian wankte wie unter einem Hieb.
»Hör auf!« befahl Salamir und bewegte die Hand. Im selben Moment erlosch der fremde Einfluß in Torians Denken. Nur der Schmerz blieb noch eine Weile. Er stöhnte, griff haltsuchend um sich und schloß die Augen.
»Was soll das?« fauchte Shyleen. »Ich hätte ihn fast so weit gehabt...«
»Wenn ich sie zu etwas zwingen wollte, hätte ich es längst tun können. Es ist wohl besser, wenn du wieder gehst, Shyleen«, sagte ihr Vater streng.
Shyleen fuhr wie unter einem Schlag zusammen. Für einen Moment zerbröckelte die Fassade von Hochmut und Unnahbarkeit auf ihrem Gesicht, und darunter kam ein ganz anderes Geschöpf zum Vorschein. Aber es verschwand zu schnell, als daß Torian es wirklich erkennen konnte.
»Das scheint mir auch so«, fauchte sie. »Ich hätte besser im Tempel bleiben sollen.« Feindselig starrte sie Torian an, während Garth Luft für sie zu sein schien. Dann wandte sie sich mit hochrotem Kopf um und eilte zur Tür.
»Ich brauche keine Leibwächter, und schon gar nicht solche erbärmlichen Kreaturen!« rief sie. »Ich weiß mich auch selbst zu schützen!« Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloß.
Torian blickte ihr kopfschüttelnd nach. Es dauerte einige Sekunden, bis er den wahren Grund ihres Zornes begriff- und als er es tat, fühlte er fast so etwas wie Mitleid. Er hatte ihrem Willen getrotzt, und Salamir hatte sie durch sein Eingreifen gedemütigt. Trotz der erschreckenden Macht, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, war Shyleen im Endeffekt noch immer ein Kind. Aber ein gefährliches Kind.