Es war kalt, als er erwachte. Das war das erste, was er fühlte. Dann meldete sich der Schmerz: anfangs nicht mehr als ein dünnes, mehr störendes als wirklich quälendes Gefühl, das sich aber schnell zu einem Brennen und schließlich zu purer Qual steigerte. Sein Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, es in zwei Teile zu schlagen. Zwischen seinen Zähnen war klebriges Blut, und seine Zunge war geschwollen und lag wie ein Fremdkörper in seinem Mund. Sein Bewußtsein kehrte nur langsam zurück, und ebenso langsam begann er seine Glieder wieder zu spüren. Langsam, sehr langsam nur erwachten auch seine anderen Sinne wieder.
Er hörte Stimmen. Stimmen und das Geräusch zahlreicher, trappelnder Schritte. Ein böiger Wind strich über sein Gesicht und kühlte seine Wunden, und irgend etwas kitzelte seine Wade. Der Verband an seinem Bein hatte sich gelöst, und die Wunde blutete wieder. Irgendwo, ganz in seiner Nähe, unterhielten sich zwei Männer halblaut, aber er konnte die Worte nicht verstehen, und durch seine geschlossenen Lider drang der flackernde Schein brennender Feuer.
Torian versuchte, vorsichtig die Augen zu öffnen, aber es ging nicht. Seine Lider waren verklebt und schwer, und seine Haut prickelte. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß sein Gesicht von einer Schicht eingetrockneten Blutes bedeckt war. Der Schnitt in seiner Wange war tief.
Aber er hatte ihm wahrscheinlich auch das Leben gerettet. Die Männer hatten ihn für tot gehalten und sich nicht weiter um ihn gekümmert.
Vorsichtig, um nicht die Aufmerksamkeit der Tremoner zu erwecken, atmete er tief ein und versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Es war noch immer Nacht, obgleich er das Gefühl hatte, sehr lange bewußtlos gewesen zu sein. Über ihm spannte sich ein wolkenloser, dunkler Himmel, auf dem die Sterne wie achtlos ausgestreute Diamantsplitter funkelten, und der Feuerschein ließ die Felswände des Tales schimmern, als wären sie mit Blut übergössen. Er war lange bewußtlos gewesen. Stunden. Lange genug, dachte er erschrocken, daß sich der Wind drehen und die Wolken wieder auf die Ebene zurückjagen konnten. Zu lange. Selbst wenn es ihm jetzt noch gelang, zu entkommen, würde er die Truppen nicht mehr rechtzeitig erreichen.
Flüchtig dachte er an Bagain und die anderen, verscheuchte den Gedanken aber sofort wieder. Er hatte es versucht, und mehr konnte man nicht von ihm verlangen. Trotzdem blieb ein unangenehmes Gefühl in ihm zurück. Er fühlte sich wie ein Verräter. Torian lauschte, öffnete die Augen noch ein ganz kleines bißchen mehr und wagte es, den Kopf um eine Winzigkeit zu drehen. Er lag noch an derselben Stelle, an der er nach seinem Sturz zur Ruhe gekommen war. Der Boden unter ihm war feucht, und der Blick auf den rückwärtigen Teil des Hanges wurde ihm von einem Felsen verwehrt. Die Stimmen, die er hörte, waren nicht in seiner unmittelbaren Nähe. Aber er war eingeschlossen von einem Ring flackernder Feuer.
Torians Herz begann schneller zu schlagen, als er begriff, was geschehen war. Die Götter müssen mich besonders lieben, dachte er sarkastisch. Er lag praktisch im Herzen des tremonischen Heeres, verletzt, aber lebend, und mit etwas Glück würde es bis zum nächsten Morgen dauern, ehe sie merkten, daß er nicht tot war. Aber Torian gedachte nicht, so lange hierzubleiben. Er lauschte noch einen Moment, spannte die Muskeln, stemmte sich behutsam auf Hände und Knie hoch und huschte mit einer lautlosen Bewegung vollends in den Schatten des Felsens, neben dem er erwacht war. Sein Herz hämmerte, und in seinem Mund war der bittere Eisengeschmack von Blut. Seine ganze linke Körperhälfte war taub. Niemand schien von seinem Erwachen Notiz genommen zu haben, aber seine überreizten Nerven gaukelten ihm überall Bewegung und Schatten vor, und das Geräusch des Windes wurde zu einem meckernden Hohngelächter in seinen Ohren.
Er schüttelte den Gedanken ab, senkte die rechte Hand auf das Schwert und spähte mit angehaltenem Atem in die Runde. Was er sah, war alles andere als ermutigend.
Die Götter mußten ihn wirklich lieben, dachte er grimmig. Genug jedenfalls, um einen ihrer grausamen Scherze mit ihm zu treiben. Er war zwar am Leben – aber er hatte keine besonders guten Aussichten, diesen Zustand noch längere Zeit beizubehalten. Er befand sich tatsächlich im Herzen der tremonischen Armee. Rings um ihn herum bewegten sich dunkle, in die bodenlangen roten Umhänge Tremons gehüllte Gestalten; fünfzig, vielleicht sechzig oder mehr. In seinem Rücken befand sich der geröllübersäte Hang, rechts und links von ihm die lotrecht emporsteigenden Felswände der Schlucht, und vor ihm das Tal mit dem Fluß. Jetzt, als die Wolken wieder abgezogen waren, konnte er mehr von seiner Umgebung erkennen. Die Tremonen hatten ihre Pferde in eine hastig improvisierte Koppel getrieben, fünfzig Schritt talabwärts und außerhalb der Reichweite von Bagains Pfeilen. Es gab nicht einmal einen Wächter. Die rotgekleideten Mörder schienen sich ihrer Sache äußerst sicher zu sein. Dabei hätte Torian weniger als eine Minute gebraucht, die Koppel zu erreichen und eines der Pferde zu stehlen. Das einzige, was dagegen sprach, waren die ungefähr fünfundzwanzig Krieger, die sich zwischen ihm und der Koppel aufhielten...
Torian unterdrückte im letzten Moment ein Seufzen. Bagain und seine Männer mußten noch am Leben sein und sich oben in der Höhle verschanzen, und solange ihnen die Pfeile nicht ausgingen, konnten sie sich gegen jede beliebige Übermacht halten. Wenigstens bis zum nächsten Morgen. Aber sie warteten darauf, daß er ihnen Hilfe brachte.
Torian schüttelte den Gedanken mit aller Gewalt ab. Es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Es glich schon einem Wunder, daß sich der Mann, der ihn vorhin hatte ausrauben wollen, nicht mit einem Schnitt durch seine Kehle der Tatsache versichert hatte, daß er wirklich tot war, und einem zweiten, daß sie ihn all die Stunden unbehelligt hier liegengelassen hatten. Auf ein drittes zu warten, wagte er nicht.
Er duckte sich, bewegte prüfend die Hände und spürte, wie seine Kraft langsam zurückkehrte. Er war nicht ernsthaft verwundet. Wie alle Kopfwunden hatte der Schnitt in seinem Gesicht übermäßig stark geblutet, und wenn er nicht achtgab und die Wunde nicht versorgte, würde er Brand oder Fäulnis bekommen und binnen weniger Tage sterben. Aber im Moment fühlte er sich frisch und ausgeruht wie nach einem tiefen, erquickenden Schlaf.
Behutsam zog er das Schwert aus der Scheide, verbarg die Klinge unter seinem Umhang, damit sich kein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall brach und ihn verriet, und sah sich suchend um. Überall um ihn herum waren Männer, aber keiner war nahe genug und allein, so daß er ihn mit einem raschen Schritt hätte erreichen können. Aber er hatte Zeit. Die Tremonen taten irgend etwas – was, konnte Torian nicht erkennen, aber es war klar, daß sie nicht nur tatenlos herumstanden und auf den Morgen warteten –, und früher oder später würde einer von ihnen in seine Nähe kommen.
Torian grinste böse. Er würde wenigstens einem von ihnen den Schnitt in seinem Gesicht zurückzahlen. Mit zehn Zentimeter Stahl. Direkt in die Rippen.
Ein paar der Schatten bewegten sich, kamen auf seine Deckung zu und bogen in wenigen Schritten Entfernung ab, in Richtung auf die Böschung zu. Torian sah nach oben. Hinter dem Höhleneingang glühte rotes Licht, und davor war der Schatten eines Menschen zu erkennen. Trotz seiner mißlichen Lage hätte er in diesem Augenblick nicht mit Bagain und seinen Männern tauschen mögen. Er hatte wenigstens noch eine winzige Chance. Die zehn Männer dort oben waren schon tot. Sie wollten es nur noch nicht wahrhaben. Ein Geräusch auf der anderen Seite des Tales erweckte seine Aufmerksamkeit. Er ließ sich wieder in die Hocke sinken, kroch auf Händen und Knien – immer im Schatten bleibend und alle Sinne bis zum Zerreißen gespannt – ein Stück zur Seite und preßte sich in den Schutz eines anderen Felsen. Unaufhörlich spähte er in die blau graue Dämmerung hinaus.
Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als er sah, wer das Geräusch verursacht hatte.